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Das Thema Abtreibung spaltet Argentinien

30. Dezember 2020

Nicht nur in Argentiniens Senat wurde darüber gestritten, ob Schwangerschaftsabbrüche legalisiert werden sollen. Auch auf den Straßen des Landes machen Abtreibungsbefürworter und -gegner mobil.

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Milagros Saavedra | Protest Grüne Bewegung
Bild: Privat

Wenn sich Milagros Saavedra ihre grüne Stoffmaske, den grünen Umhang und ihr Megafon schnappt, steht wieder eine neue "marea verde", eine "grüne Flut" an. Die 19-jährige Soziologiestudentin aus der argentinischen Stadt Mendoza ist, wenn man so will, ein Tropfen dieser riesigen Flut, die für eine Legalisierung der Abtreibung in dem erzkatholischen Land kämpft. Saavedra sagt: "Ich bin jeden Tag aufs Neue überwältigt von unserer Initiative, ich lebe das mit jeder Faser meines Körpers. Ich bin sehr glücklich, Geschichte zu schreiben."

Jährlich bis zu 520.000 illegale Abtreibungen

Schon vor zwei Jahren war Saavedra - damals noch Schülerin - dabei, als diese Geschichte beinahe schon geschrieben worden wäre. Hauchdünn scheiterte damals die Gesetzesvorlage im argentinischen Senat. Doch nun soll es endlich klappen, dass Frauen innerhalb der ersten 14 Wochen ihrer Schwangerschaft abbrechen dürfen. Und dass staatliche und private Kliniken den Eingriff kostenlos durchführen. Es ist nicht weniger als eine Revolution in einem Land, in dem neun von zehn Menschen katholisch sind.

Milagros Saavedra | Protest Grüne Bewegung
"Wir fordern Rechte ein, die uns zustehen, wir sind nicht verantwortlich für den Riss in der Gesellschaft" - Milagros SaavedraBild: Privat

"Wir wollen über unsere Körper und unsere Leben selbst bestimmen", sagt die junge Studentin, "wegen heimlichen Abtreibungen sterben hier immer wieder Frauen. Die Legalisierung ist etwas, was uns der Staat und die Demokratie einfach schulden." Jedes Jahr führen in Argentinien Ärzte in Hinterhöfen bis zu 520.000 illegale Abtreibungen durch, 50.000 Frauen landen später wegen Komplikationen in den Krankenhäusern, Dutzende von ihnen sterben. Die Dunkelziffer ist noch höher.

Ganz Argentinien diskutiert über Abtreibung

Milagros Saavedra will, dass das endlich aufhört. Wie Millionen andere Argentinierinnen auch. Eines, was früher undenkbar gewesen sei, hätten sie mit der grünen Bewegung jetzt schon geschafft, sagt die Studentin: "In Argentinien wird heute überall über Abtreibung diskutiert: in den Schulen, in den Medien, in den sozialen Netzwerken, in Familien, in der Politik, in den Krankenhäusern, in allen Lebensbereichen."

Milagros Saavedra | Protest Grüne Bewegung
“Wir kämpfen auch für den freien Zugang zur Anti-Baby-Pille und sexuelle Aufklärung in der Schule“ - Milagros SaavedraBild: Privat

Vielleicht ist Saavedras Vorname ja ein Vorzeichen. "Milagros", bedeutet "Wunder", und darauf hofft sie genauso wie die Menschen in den 700 Organisationen, die sich der nationalen Kampagne für eine legale, sichere und kostenlose Abtreibung angeschlossen haben. Und wenn der Senat die Gesetzesvorlage wieder abschmettert? "Ich gehe so lange auf die Straße, bis die Abtreibung legal ist."

Die himmelblaue Welle stemmt sich dagegen

Geht es nach Camila Duro, kann das Wunder auf sich warten lassen. Am besten für immer. Denn die 26-jährige Philosophiestudentin ist Sprachrohr der "ola celeste", der "himmelblauen Welle", die eine Reform des Abtreibungsgesetzes strikt ablehnt. Auch ihre Bewegung, zu erkennen an den Masken und Halstüchern in den argentinischen Nationalfarben, wächst in Rekordtempo. Duro sagt: "Es ist nicht gerecht, ein Problem dadurch zu lösen, dass man ein menschliches Wesen tötet, nur weil einem vielleicht gerade der Moment nicht passt."

Argentinien Thema Abtreibung | Protest
“Das Establishment will hier etwas gegen den Willen des argentinischen Volkes durchsetzen“ – Camila DuroBild: privat

Seit drei Jahren engagiert sich die Studentin bei "Frente Jóven", einer Organisation, die sich in zahlreichen Projekten um Kinder und schwangere Frauen kümmert – und kein Verständnis für die Forderungen der Gegenseite hat. "Wir sind ein Land, das extrem sensibilisiert ist, zum Beispiel Kinder mit Down-Syndrom zu integrieren. Diese Abtreibungsdebatte läuft den Werten der meisten Argentinier komplett entgegen, Abtreibung zu legalisieren ist nicht der Wille der Mehrheit."

Meinungsumfragen sehen Abtreibungsgegner vorne

Argentinien Thema Abtreibung | Camila Duro
"Abtreibung ist ein soziales Fiasko" - Camila DuroBild: privat

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstitutes Opinaia von November waren tatsächlich 49 Prozent der Argentinier gegen Abtreibungen, 35 Prozent dafür, 16 Prozent wollen sich nicht festlegen. Für Duro der klare Beweis, dass die Meinung einer bestimmten Klasse nicht die Haltung ganz Argentiniens widerspiegelt: "Nur weil die Mittel-und Oberschicht von Buenos Aires und anderen Großstädten sich mit progressiven Ideen identifiziert, heißt das noch lange nicht, dass das ganze Volk dahintersteht."

Es soll, so Duro, doch bitte dabei bleiben, dass in Argentinien Frauen nur dann abtreiben dürfen, wenn sie vergewaltigt wurden oder wenn durch die Schwangerschaft ihre Gesundheit bedroht ist. Ein Gesetz, dass Abtreibung unter Strafe stellt und nächstes Jahr 100 Jahre alt wird. Für Camila Duro ist es trotzdem aktueller denn je: "Geboren zu werden ist kein Privileg, es ist ein Recht!"

Legale Abtreibungen im Geburtsland des Papstes?

Bei Livia Uriol läuft die Studentin mit solchen Aussagen offene Türen ein. Die Dekanin für Rechtswissenschaften an der Universität Salvador in Buenos Aires gehört zu den Unterzeichnern eines Dokuments der einflussreichen katholischen Hochschulen des Landes, das erklärt, warum eine Legalisierung der Abtreibung verfassungswidrig sei. Uriol hat eine klare Meinung zur aktuellen Debatte: "Ich bin dagegen, unschuldige Leben auszulöschen. Das ist ein Verbrechen. Der Schutz der Familie ist in der Verfassung verankert."

Sie liegt damit ganz auf der Linie eines Mannes, der die Diskussion mit großer Aufmerksamkeit verfolgt, obwohl er über 10.000 Kilometer entfernt wohnt: Papst Franziskus, der als Jorge Mario Bergoglio 1936 in Buenos Aires geboren wurde. Eine Lockerung des Abtreibungsgesetzes wäre für ihn eine gefühlte Niederlage, wohl auch deswegen schickte er einen Brief an die Bischöfe seines Heimatlandes: Sie sollten "Leben und Gerechtigkeit" verteidigen.

Tiefer Riss durch die argentinische Gesellschaft

Zu groß ist die Angst, dass sich Geschichte wiederholt: 2010 hatte Argentinien die Ehe für alle eingeführt. Als erstes Land in Lateinamerika und gegen den starken Widerstand der Kirche. Präsidentin damals: Cristina Kirchner. Nun könnte ausgerechnet die jetzige Vizepräsidentin das Zünglein an der Waage sein. Viele halten ein Patt im Senat bei 36 Stimmen für ein neues Abtreibungsgesetz und 36 Stimmen dagegen für möglich.

Buenos Aires Nationalkongress Cristina Fernandez de Kirchner
War früher gegen Abtreibung, ist nach einem Gespräch mit ihrer Tochter nun eher dafür - Cristina KirchnerBild: Reuters/A. Marcarian

Dann würde die Stimme der Senatspräsidentin Kirchner entscheiden. Eine Situation, welche die frühere Präsidentin tunlichst vermeiden will, weil Kirchner dabei nur verlieren kann. Die argentinische Gesellschaft hat mit der Debatte über das Abtreibungsgesetz bereits verloren, sagt Juristin Uriol: "Diese Diskussion vergrößert den Riss, der bereits jetzt durch die Gesellschaft geht. Statt in einem Land, das sowieso schon riesige politische, wirtschaftliche und kulturelle Probleme hat, gemeinsam Projekte anzugehen, lassen wir uns durch solche Initiativen noch mehr spalten." 

"Somos Belén" - Ein Buch rüttelt Argentinien auf

Dass Argentinien im Jahr 2020 vielleicht noch hitziger über das Thema Abtreibung diskutiert, hat viel mit Ana Correa zu tun. Oder besser: mit Ihrem Buch "Somos Belén". Die Journalistin schildert darin aufrüttelnd das Schicksal einer 27-jährigen Frau in der nördlichen Provinz Tucumán, die wegen des vermeintlichen Mordes an ihrem Fötus zu acht Jahren hinter Gittern verurteilt wurde.

Argentinien Thema Abtreibung | Ana Correa
"Hier ist nicht nur eine legale Abtreibung verboten, Frauen wandern dafür sogar ins Gefängnis. Das ist Folter" – Ana CorreaBild: Alejandra Lopez

Am Ende kommt sie nach fast drei Jahren frei, weil sich Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International für die junge Frau einsetzten. "Somos Belén" ist auch heute ein Schlachtruf der grünen Bewegung. Correa ist überzeugt davon, dass ihr Buch auch politisch einiges bewirkt hat: "Deswegen hat sich zum ersten Mal ein argentinischer Präsident mit einer Frau getroffen, die wegen einer Abtreibung im Gefängnis landete."

Präsident Fernández löst sein Wahlversprechen ein

Ebenjener Präisdent, Alberto Fernández, will nun Wort halten und sein Wahlversprechen, Abtreibung nicht mehr unter Strafe zu stellen, einlösen. Ende November legte er einen entsprechenden Gesetzesentwurf vor. "Der Präsident hat sein ganzes Leben lang Jura an der Universität von Buenos Aires gelehrt. Man muss ihm nicht erklären, dass es absurd ist, dass im Jahr 2020 Abtreibung immer noch kriminalisiert wird", sagt Ana Correa.

Alberto Fernandez, Präsident von Argentinien
"Im 21. Jahrhundert muss jede Gesellschaft die individuelle Entscheidung respektieren, frei über den Körper zu verfügen" - Präsident Alberto FernandezBild: picture-alliance/dpa/Presidencia Argentina/E. Collazo

Die Mutter von zwei Kindern hat selbst einmal abgetrieben: Ihr Fötus hatte das Edwards-Syndrom und war damit nicht lebensfähig, Correa geriet in die Hände von dubiosen Hinterhof-Medizinern, wurde lediglich mit Tabletten behandelt und hatte monatelang keinen Zugang zu Krankenhäusern. Ihr Appell: "Ich habe mir geschworen, dass keine Frau mehr das erleiden muss, was ich durchgemacht habe. Es ist Zeit, dass sich die argentinische Gesellschaft endlich ändert."

Dies ist die aktualisierte Fassung eines Artikels vom 20.11.2020