Das Schweigen der Jesuiten
3. Februar 2010
"Ich schäme mich abgrundtief", sagt Pater Klaus Mertes am 1. Februar auf einer eigens einberufenen Pressekonferenz in Berlin. Es ist das erste Mal, dass eine kirchliche Institution selber einen Missbrauchskandal bekannt macht. Er schäme sich für seinen Orden und für seine Kirche, die vor der Gewalt kapituliert und sie gedeckt habe, fügt Mertes sichtlich erschüttert an. Die kirchliche Lehre zur Sexualität habe sich "derart weit vom realen Alltag und den Fragestellungen junger Menschen entfernt", dass zwischen Kirche und Jugend Sprachlosigkeit herrsche. Diese Verdrängung der Sexualität, so Mertes, erleichtere den Missbrauch und erschwere seine Bekämpfung. Er spricht offen vom "Versagen" der Ordensleitung.
Der Jesuiten-Pater arbeitet seit 1994 als Lehrer am Canisius-Kolleg in Berlin und ist heute der Rektor der katholischen Privatschule. Es ist Mertes zu verdanken, dass der Jesuiten-Orden sein Schweigen gebrochen hat, um den seelischen und körperlichen Missbrauch aufzuklären - nicht nur am Canisius-Kolleg, denn schon jetzt steht fest, dass noch mindestens zwei weitere Jesuiten-Schulen betroffen sind. In allen Fällen geht es um das sexuelle Bedrängen minderjähriger Schutzbefohlener, um das Vermischen von Sex und Religion, damit die Opfer schweigen.
Der Aufklärer
Als Mertes 1994 ans Canisius-Kolleg kam, dauerte es nicht lange, bis er zum ersten Mal von den Gerüchten über sexuellen Missbrauch von Schülern hörte. Noch waren es nur Gerüchte, aber sie ließen den Lehrer nicht mehr los. Er sprach das Thema nach eigenen Angaben immer wieder bei den Jahrgangstreffen ehemaliger Schüler an. 2006 habe sich ihm dann ein erstes Opfer schriftlich offenbart und dabei um absolute Diskretion gebeten.
Der Pater ging nicht an die Öffentlichkeit, aber er informierte die Spitze seines Ordens und den Vatikan in Rom. Er drängte mit Erfolg darauf, dass der Jesuiten-Orden mit der Rechtsanwältin Ursula Raue eine unabhängige Beauftragte für Missbrauchsfälle einsetzte. 2008 meldete sich dann ein weiteres Opfer bei Mertes, im Dezember 2009 und Januar 2010 dann die nächsten. Da habe er erkannt, so der Aufklärer im Interview mit der "Süddeutschen Zeitung", "dass der Missbrauch sich nicht auf Einzelfälle beschränkte, sondern System hatte".
Als die Opfer signalisierten, dass sie die Öffentlichkeit nicht länger scheuen würden, ging Mertes in die Offensive und mit ihm sein Orden. Dass er den Schritt an die Öffentlichkeit nicht schneller gewagt hat, bezeichnet der Pater im Nachhinein als Fehler. Aber er habe sich den ersten Opfern, die sich ihm offenbarten und um Stillschweigen gebeten hatten, verpflichtet gefühlt.
Inzwischen hat Mertes als Rektor des Canisius-Kollegs alle Abiturjahrgänge zwischen 1975 und 1985 angeschrieben und um Mithilfe bei der Aufklärung der Verbrechen gebeten. Für ihn geht es vor allem auch um die Frage, warum niemand das Leid der Kinder bemerkt habe oder bemerken wollte. Auch die Staatsanwaltschaft ist eingeschaltet - allerdings sind die jetzt bekannt gewordenen Fälle wahrscheinlich alle verjährt. Sexueller Missbrauch verjährt in Deutschland zehn Jahre nach der Volljährigkeit der Opfer.
Die Opfer
Eines der Opfer, das sich Mertes in einer E-Mail offenbarte, hat dem Berliner "Tagesspiegel" inzwischen unter dem Pseudonym "Hartmut Walter" ein Interview gegeben. Darin schildert er seinen Missbrauch im Keller des Schulgebäudes zwischen 1975 und 1978. In dem Raum habe es Betten gegeben. Der Täter sei ein beliebter Lehrer gewesen, der locker war und seine Schüler geduzt habe.
Das heute 48-jährige Opfer schildert im Interview, dass auch er Vertrauen zu dem Mann gehabt habe, der für ihn wie ein Ziehvater gewesen sei. Er schildert weiter, dass er dem Pater intimste Fragen beantworten musste und sich vor dessen Augen selbst befriedigen musste. "Ich habe mich furchtbar einsam und eklig gefühlt." Weiter erzählt er im Gespräch mit dem "Tagesspiegel", dass er nach dem Abitur 1981 gemeinsam mit sieben weiteren ehemaligen Mitschülern einen Brief an die Leitung des Canisius-Kollegs und an die Verwaltungsbehörde des Bistums geschrieben habe. Darin berichteten die Schüler über ihren Missbrauch. Sie bekamen nie eine Antwort.
Die Täter
Bis jetzt geht es vor allem um zwei Männer: Wolfgang S. und Peter M. Allerdings ist es nicht auszuschließen, dass der Missbrauchskandal innerhalb des Jesuiten-Ordens noch weitere Kreise zieht. Im Internet sind bereits entsprechende Hinweise von anderen ehemaligen Schülern aufgetaucht.
Der frühere Jesuiten-Pater und Sportlehrer Wolfgang S., heute 65 Jahre alt, hat gegenüber dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel" die gegen ihn erhobenen Vorwürfe bestätigt. Er lebt heute in Chile und hat sich in einer persönlichen Erklärung an seine Opfer gewandt. Er schreibt, dass "es eine traurige Tatsache (ist), dass ich jahrelang Kinder und Jugendliche unter pseudopädagogischen Vorwänden missbraucht und misshandelt habe".
In der Erklärung vom 20. Januar schreibt Wolfgang S. "an alle Personen, die ich als Kinder und Jugendliche missbraucht habe. (…) Was ich dir und euch angetan habe, tut mir leid. Und falls du fähig bist, mir diese Schuld zu vergeben, bitte ich darum."
Wolfgang S. lehrte von 1975 bis 1979 am Canisius-Kolleg, dann bis 1982 an der Sankt-Ansgar-Schule in Hamburg, anschließend bis 1984 am Jesuiten-Kolleg in Sankt Blasien im südlichen Schwarzwald. An beiden Jesuiten-Schulen haben sich inzwischen weitere Missbrauchsopfer gemeldet. 1985 ging Wolfgang S. nach Chile, wo er 1992 heiratete. Als er sich deswegen in den Laienstand zurückversetzen ließ und aus dem Orden austrat, will er nach eigenen Angaben seine Vorgesetzten "eingehend über meine verbrecherische Vergangenheit" informiert haben. Wieder passierte nichts.
Der ehemalige Religionslehrer Peter R. ist der zweite Beschuldigte im Canisius-Fall. Aber der heute 69-Jährige bestreitet sämtliche Vorwürfe. Peter R. arbeitete von 1972 bis 1981 am Canisius-Kolleg. Anschließend wechselte er nach Göttingen, wo er 1986 bei einem Mordanschlag leicht verletzt wurde, dessen genaue Umstände bisher unklar sind. In Hildesheim arbeitete er daraufhin als Seelsorger für Sinti und Roma, 1995 verließ er den Jesuiten-Orden und wurde Priester im Bistum Hildesheim.
Wie der Jesuiten-Orden inzwischen bestätigt hat, gab es an jeder einzelnen dieser beruflichen Stationen Schwierigkeiten. Immer waren Kinder und Jugendliche involviert. Ernste Konsequenzen hatte aber kein einziger Vorfall. Heute ist Wolfgang R. im Ruhestand und lebt in Berlin. Aber Stefan Dartmann, der Provinzial der deutschen Jesuiten, benutzt auch für ihn den Begriff "übergriffig". "Im Bezug auf beide Täter gehen wir von sexuellen Übergriffen, wohl aber nicht von schwerem Missbrauch aus", sagt Dartmann.
Der Tatort
Das Canisius-Kolleg ist ein katholisches Privat-Gymnasium und wird vom Jesuiten-Orden getragen. Die Schule liegt auf dem Gelände der ehemaligen Berliner Krupp-Repräsentanz am Tiergarten und ist heute umgeben von Botschaften. Das Canisius-Kolleg gilt als eine der besten Schulen Berlins und hat zurzeit 850 Schüler. Religionsunterricht ist Pflicht. Gottesdienste, Gebete und Seelsorge gehören ebenfalls zum Schulalltag. Der Besuch der katholischen Privatschule kostet 70 Euro im Monat. Das Canisius-Kolleg war bis Mitte der 1970er-Jahre eine reine Jungenschule.
Der Jesuiten-Orden
Beide Beschuldigte gehören dem Jesuiten-Orden nicht mehr an. Die Jesuiten sind der größte Männerorden der katholischen Kirche. Der Orden hat weltweit rund 19.000 Mitglieder, in Deutschland gibt es knapp über 400 Jesuiten-Pater. Sie geloben Armut, Gehorsam gegenüber dem Papst und Ehelosigkeit, aber sie sind keine Mönche, die im Kloster leben. Die Angehörigen des Ordens arbeiten vor allem an Schulen, Universitäten, in der Priesterausbildung und in den Medien. Sie gelten als intellektuelle Elite der katholischen Kirche. Im deutschen Sprachraum besuchen rund 6000 Menschen Schulen und Universitäten, die in der Trägerschaft der Jesuiten sind. Der Orden wurde im 16. Jahrhundert von Ignatius von Loyola gegründet.
Autorin: Sandra Petersmann
Redaktion: Kay-Alexander Scholz