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Das Schicksal der "Petites Bonnes" in Marokko

18. September 2009

Tausende kleiner Mädchen vom Land schuften als unbezahlte Hausangestellte für die reichen Familien Marokkos - vor allem während des Ramadan. Doch ihre "Dienste" beschränken sich nicht nur aufs Kochen, Putzen und Waschen.

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Kinder MArokko (Foto:AP)
Viele Kinder werden an reiche Familien in Marokko als Arbeitskraft vermietet...Bild: AP

Als sie ihr Vater an fremde Leute in der großen Stadt vermietet hat, muss sie acht oder neun Jahre alt gewesen sein. Doch so genau weiß sie das nicht mehr. Huriya ist heute ein Teenager, ein schmächtiges Mädchen mit zittrigen Händen und dem müden, leeren Blick einer alten Frau. Ihre Familie hatte Probleme und kaum Geld, deswegen musste sie von zu Hause weg. Wenn Huriya an ihre Kindheit denkt, dann senkt sie den Kopf und weint, denn vom Leben als "petite bonne", als Hausmädchen, ist ihr nichts geblieben. Jahrelang wurde sie für vielleicht 200 Dirham im Monat, weniger als 20 Euro, ausgebeutet. Das bisschen Geld, das sie verdient hatte, musste sie bei ihren Eltern auf dem Land abliefern. "Ich habe in vielen Familien gearbeitet, manchmal musste ich in der Küche schlafen, und essen durfte ich das, was die anderen auf dem Teller gelassen haben", sagt Huriya.

Missbraucht und gedemütigt

Kinder und Mann MArokko(Foto:DW-TV)
..denn das Geld der Familien auf dem Land ist knapp.Bild: DW-TV

Sie kann sich nur noch an die Arbeit erinnern. Kochen, putzen, waschen, so sah ihr Alltag aus. Manchmal wollte der Vater der Familie auch noch mehr von ihr. Doch darüber will sie nicht reden. Schlimm war ihr Leben vor allem während des Ramadan, sagt sie, da durfte sie so gut wie gar nicht ausruhen. Ganz besonders schrecklich war für sie die heilige Nacht des Fastenmonats "Lailatu El Kadri". In dieser Nacht spazierten ihre Arbeitgeber immer mit der ganzen Großfamilie durch die Medina und kauften viel Essen ein. Aber Huriya hat vom magischen Glanz der Lichter und vom Leben da draußen nie etwas mitbekommen, denn sie durfte das Haus nicht verlassen. "In dieser Nacht des Ramadan kommt die Familie besonders zahlreich zusammen", sagt Amina Lmalih von der Kinderschutzorganisation Bayti in Casablanca. Man gebe den Bettlern ein paar besonders gutgemeinte Dirham-Münzen, man bete, esse und trinke, verhätschle die eigenen Kinder und ziehe ihnen schöne Kleider an. Gleichzeitig aber halte man sich zu Hause diese kleinen Mädchen wie Sklaven, sagt Lmalih. "Ich will nicht begreifen, dass man das für normal halten kann."

Über die "petites bonnes" wird geschwiegen

Basar in der Altstadt von Damaskus (Foto: AP)
Den "petites bonnes" in Marokko bleibt der Anblick dieser Süßigkeiten verwehrtBild: AP

Studien von Bayti und Human Rights Watch belegen, dass allein in Casablanca 22.000 Mädchen in marokkanischen Haushalten schuften müssen und oft schwer misshandelt werden. Rund 14.000 davon sind unter 14 Jahre alt. Insgesamt gibt es derzeit fast 70.000 "petites bonnes" in Marokko. Doch das ist noch immer ein großes Tabuthema. Auch wenn gerade der Tod einer 11-jährigen Hausangestellten eines Richters in Oujda Schlagzeilen macht. Wenn überhaupt, dann sehe die Öffentlichkeit leider nur diese Fälle, und nicht die alltäglichen Sklavenverhältnisse, in denen sich kleine Mädchen halb tot arbeiten, klagt Amina Lmalih. Gerade im heiligen Monat Ramadan wolle in Marokko niemand etwas davon wissen. Ihre Organisation hat sogar schon Mädchen im Alter von sieben Jahren aus angeblich guten Familien gerettet. Immer mehr Kinder kommen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara und sie sind oft noch schlimmer dran, da sie meist illegal im Land leben. Vom Staat erwartet Amina Lmalih keine Hilfe. Es gebe zwar ein Gesetz gegen Kinderarbeit unter 15 Jahren, aber Kontrollen, ob dieses Gesetz eingehalten werde, gebe es keine. Und das 20 Jahre, nachdem die Vereinten Nationen die Kinderrechtskonvention unterzeichnet haben.

Aussicht auf eine bessere Zukunft?

Kinder MArokko (Foto:AP)
In Marokko gibt es rund 70.000 "petites bonnes"Bild: AP

Amina Lmalih setzt trotzdem alles daran, den Kindern zu helfen und appelliert an das Gewissen der Menschen, die zu Hause eine "petite bonne" für sich Arbeiten lassen. "Stellen Sie sich vor, das wäre ihr Kind. Ein kleines Mädchen, das rund um die Uhr hart arbeiten muss, einsam und ohne Rechte. Eines Tages wird die "petite bonne" selbst Mutter sein, eine Bürgerin dieses Landes. Wie soll das gut gehen?" Es sei einfach inakzeptabel, so etwas mit Kindern zu machen. Das Marokko des 21. Jahrhunderts, das sich europäisch und modern geben wolle, befinde sich eher noch im Mittelalter, schimpft Amina Lmalih. Für die "petites bonnes" sei der Ramadan kein heiliger, sondern ein unheilvoller Monat. Natürlich hoffe sie, dass auch die petites bonnes etwas vom Ramadan haben, sagt Lmalih und fügt hinzu: "Noch lieber wäre mir, dass es beim nächsten Ramadan keine dieser Hausmädchen mehr gibt, sondern dass sie zu Hause mit ihren Eltern die Fastenzeit verbringen. Als glückliche Kinder, so wie alle anderen auch."

Was Glück ist, weiß Huriya nicht. Aber sie hat eine zweite Chance, denn sie wurde aus einer brutalen Familie gerettet. Jetzt wolle sie alles nur noch vergessen und bald wieder zur Schule gehen, sagt Lmalih. "Und vielleicht wird sie im nächsten Jahr auch einen schönen Ramadan erleben."

Autor: Alexander Göbel

Redaktion: Michaela Paul