Das Paradies der Familie Mann mit bittersüßem Duft
11. August 2005Kaum eine andere Familie hat so viele prominente Mitglieder hervorgebracht; so viele berühmte, aber auch tragische Lebensgeschichten, in denen sich zugleich die Geschichte der ersten Hälfte 20. Jahrhunderts spiegelt. Kaum eine Schriftstellerfamilie stößt auf solch ein anhaltendes Interesse wie die Manns. Das macht naturgemäß neugierig auf alles Private, auf die Lebensumstände des Dichters und seiner Angehörigen.
"Das Paradies hat den bittersüßen Duft von Tannen, Himbeeren und Kräutern, vermischt mit dem charakteristischen Aroma des Mooses, das von Sonne durchwärmt ist, der großen mächtigen Sonne eines Sommertages in Bad Tölz. Die Lichtung, wo wir den Morgen mit Beerenpflücken verbringen, liegt mitten in dem schönen großen Wald, der gleich hinter unserem Haus beginnt. Gibt es irgendwo auf der Welt noch andere Wälder, die sich mit diesem vergleichen lassen?" (Klaus Mann)
Er ist später nie in sein Kindheitsparadies zurückgekehrt, der Schriftsteller Klaus Mann. Wohl deshalb ist ihm das Sommerhaus der Familie so intensiv im Gedächtnis geblieben.
"Herrensitzchen"
In München wohnt die Familie Mann, wenn sie nicht aufs Land fährt. Die Strecke, die sie zurückzulegen haben von einem Ort zum anderen, ist nicht allzu lang. Thomas Mann, Klaus' Vater, nennt das Feriendomizil "Häuschen" oder "Herrensitzchen", im Briefkopf steht: Bad Tölz. Sommerhaus Thomas Mann.
"Unser Haus liegt oberhalb des alten Ortes mit dem Blick aufs Gebirge. Es hat ein rotes Dach, auf dem ein Gockelhahn sich nach dem Wind dreht, eine Terrasse, auf der wir sitzen, wenn es draußen nicht allzu unwirtlich ist, und einen sehr großen Garten. Dort gibt es den Spielplatz mit Sandhaufen, die Asternbeete, den Tennisplatz, und die Apfelbäume. Eine Allee - die wir langweilig zu gehen finden, so kurz sie ist - führt vom Zaun zum Haus." (Klaus Mann)
Wenn Thomas Mann vom "Häuschen" spricht, dann darf das als elegante Untertreibung verstanden werden. Er ist mit reichen Schwiegereltern gesegnet, sein Ruf als Schriftsteller kann besser nicht sein, der Roman "Buddenbrooks" ist auf dem Weg, auch international ein überragender Erfolg zu werden. Für sein nächstes Werk hat er vom Verlag einen großzügigen Vorschuss bekommen.
Träumen im Korbstuhl
Bereits in früheren Jahren hatte Thomas Mann die Sommer in Bad Tölz verbracht. In einem gemieteten Haus. Den Vorschuss verwendet er jetzt für den Erwerb eines Grundstücks in der Heißstraße, ein wenig außerhalb. Der Architekt Hugo Roeckl baut ihm eine Jugendstilvilla mit Erkern und zwei ausladenden Balkonen, jeder bildet zum Garten hin ein Halbrund. In Korbstühlen sitzend kann man hier den Tag verplaudern oder sich zu den fernen Bergen hinüber träumen.
"Dies ist der Sommerhimmel: In seinem Blau schimmern weiße, flockige Wolken, die sich zwischen den alpinen Gipfeln zu barocken Formationen ballen. Die Luft riecht nach Sommer. Die Grillen singen ihr monoton-hypnotisierendes Sommerlied. Zu unserer Rechten liegt das Sommerstädtchen Tölz mit seinen bemalten Häusern, seinem holprigen Pflaster, seinen Biergärten und Madonnenbildern. Um uns breitet sich die Sommerwiese, vor uns ragt das Gebirge, gewaltig getürmt, dabei zart, verklärt im Dunst der sommerlichen Mittagsstunde." (Klaus Mann)
Zwei Etagen und ein Dachgeschoss bieten Platz für die wachsende Kinderschar. Und selbstverständlich gibt es ein Arbeitszimmer, nach Osten hin, für den Vater, den seine Kinder ehrfürchtig den "Zauberer" nennen. Thomas Mann, der sein Leben ganz seinem schreibenden Talent verschrieben hat, arbeitet selbstverständlich auch in den Ferienmonaten. Disziplinierter womöglich noch als in der Stadt, denn hier in Tölz sind kaum Störungen zu befürchten. Manchmal kommt Besuch - aber der muss langfristig planen: Thomas Mann bittet Gäste um eine Anmeldung per Postkarte.
Geisteskranker Schäferhund
Die Kinder - nach Erika und Klaus kommen Golo und Monika zur Welt - erobern ihr Paradies mit allen Sinnen, spielen Fangen und Verstecken, spielen Tennis, führen kleine Theaterstücke auf. Auch ein Hund gehört zur Familie: In den ersten Jahren Moritz - von den Kindern "der Motz" genannt - ein schottischer Schäferhund "mit harmloser Geisteskrankheit", schreibt Thomas Mann.
Wer heute nach Tölz kommt und im Garten der Villa spazieren geht, kann am Wiesenrand einen Steinhügel sehen: das Grab von Moritz. Dessen Nachfolger, der Bauschan, zweiter Hauptdarsteller in Thomas Manns Erzählung "Herr und Hund" ist übrigens ein echter Tölzer, ein Hühnerhund, burschikos und von robuster Gesundheit. Ihn abzuholen und der Familie einzugliedern ist für den Schriftsteller ein wichtiges Unterfangen:
"Es war kein Triumphzug, worin wir mit unserem neuen Hausgenossen den etwa einstündigen Heimweg zurücklegten. Wir lasen wohl Heiterkeit, aber auch spöttische Geringschätzung in den Blicken der Begegnungen, wozu die Gelegenheit sich vervielfältigte, als unser Weg uns durch den Marktflecken führte, und zwar der Länge nach. Zum Überfluss hatte sich bald herausgestellt, dass der Hund, wahrscheinlich von langer Hand her, an einer Diarrhöe litt, was uns zu häufigem Verweilen unter den Augen der Städter zwang." (Thomas Mann)
Vom Weiher aus - heute ein stiller See - nur einen kleinen Spaziergang vom Haus entfernt, sieht man den goldenen Hahn auf dem Dach. Damals tummeln sich Kinder und Erwachsene in einer nahe gelegenen öffentlichen Badeanstalt.
Tölz und der Zauberberg
Thomas Mann sammelt seine Eindrücke, um in sommerlicher Ruhe und Abgeschiedenheit literarische Charaktere und Geschichten zu formen und lebendig werden zu lassen. "Der Tod in Venedig" entsteht zu großen Teilen im Arbeitszimmer des Häuschens, und auch der Roman "Der Zauberberg".
1917 tauscht "der Zauberer" seinen Landsitz gegen eine Kriegsanleihe und reist mit den Seinen im Sommer fortan ans Meer. Die Kirche übernimmt das Haus. Bis heute ist die Villa Altersruhesitz der "Armen Schulschwestern" und im Arbeitszimmer von Thomas Mann residiert mittlerweile ein Pfarrer. Über dem Haupteingang: Kein Kreuz, sondern unverändert als Jugendstilornament die Initialen des eigentlichen Hausherrn: ThM. Unten am Tor ein paar Zeilen aus dem Zauberberg:
Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tod keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken. (Thomas Mann)