Das asiatische Corona-Rätsel
10. Juni 2020Japans Finanzminister Taro Aso, ein 79-jähriger eingefleischter Nationalist, antwortet auf die Frage, warum Japan relativ wenige COVID-19-Opfer zu beklagen hat, kurz und knapp mit dem Wort "mindo", was sich mit "höheres Kulturniveau" übersetzen lässt. Der TV-Sender TBS wiederum meinte, die japanische Sprache enthalte weniger Plosivlaute und erzeuge daher eine kleinere virusübertragende Tröpfchenmenge. Viele Japaner sind auch überzeugt davon, dass ihre gute Ernährungsweise sie besser vor dem Coronavirus schütze.
Doch all diese japanischen Theorien erklären nicht, warum die Infektions- und Todesraten nicht nur in Japan, sondern in ganz Asien relativ niedrig sind. China meldete bislang drei COVID-19-Tote pro eine Million Einwohner, Japan sieben, Pakistan sechs, Südkorea und Indonesien fünf. Taiwan, Vietnam, Kambodscha und die Mongolei blieben ganz ohne registrierte Opfer. Zum Vergleich: Deutschland verzeichnete 100 Corona-Tote pro Million Einwohner, die USA fast 300 und Großbritannien, Italien und Spanien mehr als 500.
Allein mit den verschiedenen Testzahlen und Zählweisen lässt sich dieser große Abstand nicht hinreichend begründen. Zum Beispiel testete Südkorea auf Parkplätzen zur Durchfahrt seine Bürger massenweise, während Japan lange Zeit nur gezielt Patienten mit vier Tagen Fieber sowie Kontaktpersonen von Infizierten testete. Auch andere Sitten in vielen Ländern Asiens beim Begrüßen und Verabschieden ohne Händeschütteln können bei einem Virus, das über die Luft übertragen wird, eigentlich nicht der entscheidende Faktor sein. Daher richtet sich das Augenmerk der Wissenschaft nun auf andere Unterschiede zwischen West und Ost, um das Coronavirus global besser eindämmen zu können.
Ansteckender durch Mutation?
So fanden Forscher des japanischen Instituts für Infektionskrankheiten heraus, dass sich das Virus SARS-CoV-2 mit seiner regionalen Verbreitung genetisch verändert hat. Die ersten Infektionen in Japan und auf dem Kreuzfahrtschiff "Diamond Princess" im Hafen von Yokohama stammten eindeutig von dem Coronavirus aus Wuhan in China ab. Aber die zweite Infektionswelle in Japan ab April ließ sich auf ein Virus zurückführen, das mit Einreisenden aus Europa ins Land kam. Untersuchungen der Universität Cambridge bestätigten dieses Ergebnis. Womöglich wurde das Virus in Europa und Amerika durch eine Mutation ansteckender, meinte ein US-Forscherteam des Los Alamos National Laboratory.
Der emeritierte Professor Tatsuhiko Kodama, ein Mediziner der führenden Universität Tokio, verwies auf Studien des Immunologie-Instituts La Jolla der University of California. Danach besitzen viele Menschen in Ostasien offenbar wirksame Antikörper gegen das neue Coronavirus. Viele Grippe- und Coronaviren der Vergangenheit hätten ihren Ursprung in Südchina gehabt und bei der Bevölkerung in den Nachbarländern virusbedingte Erkältungen verursacht. "Daher finden sich in ihrem Blut weiße Blutkörperchen, die verwandte Viren wie SARS-CoV-2 abwehren können", meinte Kodama. Die Immunwirkung sei nicht perfekt, aber mit einer gewissen Menge einer ähnlichen Virusart kämen ihre Körper klar.
Tasuku Honjo, Nobelpreisträger für Medizin, denkt in eine ähnliche Richtung. Die Menschen in Asien unterschieden sich vom Westen sehr stark in jenen Genen, die die Antwort des Immunsystems auf ein Virus kontrollieren, sagte der japanische Immunologe. Dennoch seien die Menschen in Ostasien nicht sicher, warnte der Mediziner Kodama. Ein mutiertes Virus könne für die Bevölkerung im Fernen Osten genauso tödlich sein wie in Europa.
Zweifel am Faktor Übergewicht
Dagegen überzeugt eine andere in Japan populäre Erklärung für die Unterschiede zwischen West und Ost weniger. Angeblich seien Menschen in Ostasien aufgrund der dortigen Pflichtimpfung gegen Tuberkulose besser geschützt, weil diese das Immunsystem gegen Viren generell stärke, während die sogenannte BCG-Impfung in westlichen Ländern nur noch freiwillig sei. Dagegen spricht, dass die BCG-Impfraten in Frankreich genauso hoch sind wie in Japan, doch die französischen Todesraten für COVID-19 ungleich höher sind.
Die Behauptung von Japans nationalistischem Finanzminister Aso, Japan sei dem Westen "kulturell überlegen", dürfte sich nicht nur auf das verbreitete freiwillige Tragen von Mund- und Nasenmasken beziehen, sondern auch auf die generell höhere Volksgesundheit. Nur vier Prozent der Japaner und fünf Prozent der Südkoreaner sind adipös, in Westeuropa liegt diese Quote laut WHO-Daten über 20 Prozent und in den USA über 36 Prozent. Aber für einen direkten Zusammenhang zwischen der Sterberate durch Sars-CoV-2 und einem hohen Übergewicht liegen bisher keinerlei wissenschaftliche Beweise vor.
Martin Fritz ist DW-Korrespondent und lebt seit mehr als 20 Jahren in Tokio. Sein jüngstes Buch "Abc 4 Japan: Ein Kulturguide" erschien 2020 im Stämpfli Verlag.