Cyberkrieg, WikiLeaks und Datenschutz
31. Dezember 2010Es gibt einen Begriff, in dem sich die Militarisierung des virtuellen Raums bündelt: "Stuxnet". Im Sommer tauchte dieser Computerwurm plötzlich auf – vermutlich, nachdem das Schadprogramm seine Arbeit bereits verrichtet hatte: die gezielte Sabotage des iranischen Atomprogramms, speziell die der technisch aufwändigen Urananreicherung. Was die Fachwelt verblüffte: Stuxnet ist auf die Manipulation industrieller Steuerungssysteme ausgelegt. Seine bislang unbekannten Erschaffer haben es zudem üppig mit Werkzeugen für die Infektion auch von prinzipiell abgeschotteten Netzwerken ausgestattet.
Stuxnet – der "digitale Marschflugkörper"
Da die von Stuxnet angegriffenen industriellen Steuerungssysteme weltweit eingesetzt werden - zum Beispiel in Kraftwerken, Chemieanlagen oder Raffinerien - müssen Bedrohungsanalysen neu überdacht werden. Stefan Ritter vom Lagezentrum des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik in Bonn ist besorgt, weil Stuxnet die Machbarkeit von Angriffen auf kritische Infrastrukturen belegt: "Es ist nicht mehr eine fiktive Bedrohung, von der ein paar Experten im Hinterzimmer reden. Sondern es ist eine reale Bedrohung. Und diese Bedrohung ist extrem groß und extrem ausgefeilt."
NATO erklärt Cyberwelt zum Schlachtfeld
Die Gefahr aus dem Cyberspace ist auch bei der NATO angekommen: Auf ihrem Gipfel in Lissabon verabschiedete das Nordatlantikbündnis Mitte November eine neue Strategie. Die zählt - neben Terrorismus und Massenvernichtungswaffen - Cyber-Angriffe zu den drei größten Bedrohungen der Gegenwart.
Praktisch ist die NATO bereits weiter: Seit zwei Jahren unterhält sie im estnischen Tallinn ein – allerdings noch recht überschaubares - Cyber-Verteidigungszentrum. Beim US-Militär kümmert sich das im Mai eingerichtete "Cyber Command" um die Eroberung des virtuellen Raums. Geführt werden die "Cyber-Krieger" von General Keith Alexander, der in Personalunion auch Chef des mächtigen US-Geheimdienstes NSA ist. Im Juni umriss Alexander die Aufgaben des "Cyber Commands": Neben der Integration und Synchronisierung aller Cyber-Aktivitäten des Verteidigungsministeriums gehört dazu für Alexander auch die Durchführung des „vollen Spektrums militärischer Cyberoperationen“.
Was das konkret zu bedeuten hat, präzisierte die "Washington Post" Anfang November, drei Tage nachdem das Cyber Command seine volle Einsatzbereitschaft gemeldet hatte: Demzufolge wünscht Cyber-General Alexander das Recht, zur Sicherung amerikanischer Interessen Computernetzwerke weltweit attackieren zu dürfen.
Wikileaks – der Geheimdienst des Volkes
Dürfte das "Cyber Command", wie es wollte – es würde wohl alles tun, um die Server der Enthüllungsplattform "WikiLeaks" zum Absturz zu bringen. Denn die hatte Ende Juli zunächst fast 80.000 US-Geheimdokumente über den Afghanistan-Krieg veröffentlicht. Die Meldungen von Soldaten, Geheimdienstlern und Botschaftsangehörigen zeichnen ein düsteres Bild der Lage am Hindukusch – und haben die Diskussion um den Sinn des Krieges und über einen raschen Abzug weiter angeheizt. Das US-Militär schäumte vor Wut. Verteidigungsminister Robert Gates warf Wikileaks-Gründer Julian Assange vor, schweren Schaden angerichtet zu haben. Die Veröffentlichung dieser Dokumente könne auf dem Schlachtfeld potenziell schwere und gefährliche Folgen für die US-Truppen und deren Partner haben sowie den Ruf und auch die Beziehungen der USA in dieser Schlüsselregion schädigen.
Unbeirrt von den heftigen Angriffen legte WikiLeaks am 22. Oktober nach - mit der Veröffentlichung der "irakischen Kriegslogbücher": Knapp 400.000 Geheimdokumente warfen ein neues Licht auf den Irak-Krieg. Noch nie waren in den USA so viele geheime militärische Dokumente veröffentlicht worden. Das Justizministerium prüft, ob Assange nicht gegen Spionagegesetze verstoßen hat. Offenbar hatte es das US-Verteidigungsministerium nicht vermocht, seine geheimen Daten zu schützen.
Den bislang größten Coup landete Wikileaks schließlich am 29. November. Eine Viertelmillion vertraulicher und geheimer Mitteilungen amerikanischer Botschaften in aller Welt wurden der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die offenherzigen Miteilungen und Beurteilungen amerikanischer Diplomaten haben Washingtons Außenpolitik an ihrem empfindlichsten Nerv getroffen: dem Vertrauen ihrer Gesprächspartner auf Vertraulichkeit.
Amerikas Diplomaten waren wochenlang mit Schadensbegrenzung beschäftigt. Während Schweden die Auslieferung von Julian Assange wegen angeblicher Vergewaltigungsvorwürfe betreibt, ist ein regelrechter Kampf um Wikileaks entbrannt: Wohl auf Druck der amerikanischen Regierung warfen Internetdienstleister die Enthüllungsplattform von ihren Servern, Finanzdienstleister leiteten keine Spendengelder weiter. Umgekehrt griffen Wikileaks-Sympathisanten über das Internet massenhaft Unternehmen und Behörden an, die sie als Feinde von Wikileaks identifizierten. Zugleich versuchte die US-Administration Lehren aus dem Datendiebstahl zu ziehen: Zum besseren Schutz ihrer Geheimnisse wurden die bislang gemeinsamen Netze des amerikanischen Militärs und des Außenministeriums getrennt. Immerhin hatten nach Schätzungen amerikanischer Medien rund 2,5 Millionen Menschen Zugang zu sensiblen Daten.
Verfassungsgericht beendet Vorratsdatenspeicherung
In ganz anderer Hinsicht beschäftigte das Thema Datenschutz die deutsche Öffentlichkeit: Seit Januar 2008 mussten deutsche Telekommunikationsunternehmen im Dienste der Sicherheit sechs Monate lang speichern, wer mit wem von wo aus wann wie lange telefoniert hat, wer wem wann SMS geschickt oder E-Mails geschrieben hat, wer von welchem Rechner aus wann im Internet surfte.
Am 2. März dieses Jahres urteilte jedoch das Bundesverfassungsgericht, diese sogenannte Vorratsdatenspeicherung sei nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Der damalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts sprach in der Urteilsbegründung von einem "diffus-bedrohlichen Gefühl des Beobachtetseins", das die anlasslose Speicherung von Verkehrsdaten hervorrufe. Eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte werde damit beeinträchtigt, so Papier. Denn selbst ohne die Inhalte der Gespräche und Mails zu kennen, lässt sich durch die – auch automatisch durchführbare - Analyse dieser Verkehrsdaten ein präzises digitales Abbild von Personen erstellen.
Verpixelte Fassaden bei Street-View Deutschland
Wie sehr den Deutschen der Datenschutz am Herzen liegt und wie sehr sie nicht nur staatlicher, sondern auch privatwirtschaftlicher Datensammelwut misstrauen, wurde im Streit um den neuen Dienst des Internetgiganten Google deutlich: "Street View". Seit Mitte November kann jedermann zunächst 20 deutsche Städte im Internet erkunden. Dem ging eine erbitterte Debatte um den Schutz der Privatsphäre voraus: Am Ende hatte rund eine Viertelmillion Menschen vor dem Start von "Google Street View" die eigenen Hausfassaden unkenntlich machen lassen.
Allerdings brachten sie sich damit auch um eine Chance: Die Durchdringung von physischer und virtueller Welt hat inzwischen nämlich ihre ganz realen Helden hervorgebracht – zum Beispiel Bob Mewse. Der 56 Jahre alte Engländer aus Bristol wurde in diesem November bekannt, weil er abgenommen hatte – ein Drittel seines Gewichts, stolze 46 Kilogramm: Mewse war bei "Street View" zufällig auf sein Abbild gestoßen. Seine Leibesfülle hatte ihn dabei so entsetzt, dass er sich fortan bewusster ernährte und regelmäßig Sport trieb.
Autor: Matthias von Hein
Redakteur: Klaus Dahmann/Jochen Vock