"Es gibt im Netz keine Schutzräume"
12. April 2019Kinder können grausam sein. Das weiß jeder, der in der Schule gemobbt wurde oder Kinder hat, die das gleiche durchmachen. Aktuell erschüttert ein Fall in Indonesien die internationale Öffentlichkeit. Eine 14-Jährige wurde nach Informationen lokaler Medien von zwölf älteren Schülerinnen krankenhausreif geschlagen. Anlass sollen Kommentare gewesen sein, die das Opfer bei Facebook gepostet hatte.
Bei Twitter schlug der Fall unter dem Hashtag "Justice for Audrey" hohe Wellen.
"Das Ausmaß der Gewalt ist extrem, aber dass ein Konflikt zwischen Jugendlichen online beginnt und dann in die 'offline Welt' überschwappt, ist nicht ungewöhnlich", sagt Birgit Kimmel, Diplompädagogin und Leiterin der EU-Initiative Klicksafe. Das Projekt, das seit 2004 existiert, wird jeweils zur Hälfte von der EU und den Landesmedienanstalten von Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen getragen. Es ist Teil einer EU-Initiative für mehr Sicherheit im Internet.
"Mobbing kann im Netz beginnen und im normalen Leben weitergehen oder umgekehrt", sagte Kimmel der DW. "In der Regel sind beide Welten betroffen, wie auch in dem Fall in Indonesien."
"Das ist nicht petzen!"
Mobbing betrifft hauptsächlich Jugendliche in der Pubertät, sagt Kimmel – und von denen hat mittlerweile die Mehrzahl ein Smartphone. Deswegen haben Opfer auch zuhause keine Ruhe vor gehässigen Kommentaren, Sticheleien und Drohungen. "Es gibt keine Schutzräume mehr; man wird 24 Stunden pro Tag, sieben Tage die Woche angegriffen", sagt Kimmel. "So gut wie jedes Mobbing, was in der Schule passiert, wird im Netz weitergeführt."
Wegen dieser Wechselbeziehung trennen Kimmel und andere Experten nicht mehr zwischen Cyber-Mobbing und "offline"-Mobbing. Und auch gesetzlich gibt es in Deutschland keine Regelungen, die speziell auf Cyber-Mobbing abzielen. Stattdessen wird viel Arbeit in die Prävention gesteckt.
"Wir haben Mitarbeiter, die speziell für Prävention geschult werden und dann in Zusammenarbeit mit lokalen Vereinen in die Schulen gehen", erklärt Erika Krause-Schöne, Bundesfrauenvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei, im DW-Gespräch. Diese Bemühungen richten sich nicht nur an Teenager – schließlich sind auch viele Kinder im Grundschulalter schon im Internet unterwegs.
"Mit der Prävention müssen wir früh anfangen", sagt auch Kimmel. Den Kindern müsse erstmal erklärt werden, "was im Internet alles passieren kann, und dass es wichtig ist, sich Hilfe zu holen, wenn man online angegriffen wird". "Wir erklären, dass es nicht petzen ist, wenn man um Hilfe fragt", sagt Kimmel. "Das spielt bei Kindern eine große Rolle."
Freizügige Fotos in der Whatsapp-Gruppe
In den höheren Klassenstufen sei es dann wichtig, die Jugendlichen zu sensibilisieren und ihnen den Unterschied zwischen Öffentlichkeit und privatem Raum klar zu machen, erklärt die Pädagogin. Ein großes Thema dabei: Keine freizügigen Bilder verschicken, auch nicht an den eigenen Freund! Wenn die Beziehung auseinander geht, könnten die dann in der Klassen-Whatsapp-Gruppe landen. Schnell hat die ganze Schule die sehr privaten Aufnahmen gesehen und redet darüber – ein Albtraum für das Opfer.
"Am wichtigsten ist es dann für die Opfer, dass als erstes diese Bilder verschwinden", sagt Kimmel. Sie erinnert sich an einen Fall, als eine Schülerin ein explizites Video an ihren Freund geschickt hatte. Der Film kursierte unter den Mitschülern.
"Als die Sache herauskam, ist das Schulpersonal durch alle Klassen gegangen und hat angeordnet, dass alle das Video sofort von ihren Geräten löschen." Auch aus dem Internet wurde das Video entfernt. Nach kurzer Zeit war es nirgendwo mehr zu sehen. Leider, sagt Kimmel, gibt es in vielen Schulen noch keine Verantwortlichen für Cyber-Mobbing, die in solchen Fällen wissen, was zu tun ist, und schnell eingreifen.
Ahnungslose Eltern
Nicht nur die Jugendlichen selbst müssen über die Möglichkeiten von Cyber-Mobbing aufgeklärt werden. "Ich kann aus eigener Erfahrung sagen, dass Schulen mittlerweile auch die Eltern direkt ansprechen", sagt Krause-Schöne von der Polizeigewerkschaft.
Der Aufklärungsbedarf ist groß. Viele Mütter und Väter kennen sich mit Snapchat und Instagram nicht aus, wissen oft gar nicht, was ihre Kinder dort posten. Und die Privatsphäre-Einstellungen der sozialen Netzwerke sind selbst für regelmäßige Nutzer schwer zu durchschauen. Kimmel: "Da müssen sich Eltern richtig einarbeiten."
Wenn Eltern erfahren, dass der Sohn oder die Tochter online gemobbt werden, ist die erste Reaktion oft: Ab zur Polizei. Anzeigen kann man beispielsweise Beleidigung, üble Nachrede oder Bedrohung, genau wie im nicht-virtuellen Leben.
Aber: "Es gilt sehr gut zu überlegen, ob man tatsächlich diesen Weg geht", sagt Kimmel. Bis die Verfahren durch sind, kann es Wochen und Monate dauern. Gerichtlich durchgesetzte Strafen "sind Sanktionen für die Täter, aber den Opfern ist damit erstmal gar nicht viel geholfen". Eine Intervention der Schule und psychosoziale Unterstützung von Eltern, Freunden oder Fachleuten, so die Expertin, sei für die Opfer oft wichtiger.