Corona: Was steckt hinter dem Zahlenwust?
18. März 2020Hinter dieser Zahl versteckt sich das Verbreitungspotenzial eines Virus. Ist die Reproduktionszahl größer als 1, überträgt jeder Infizierte die Erkrankung an mindestens eine weitere Person – das Virus breitet sich aus. Ist die Zahl kleiner als 1, stecken sich immer weniger Menschen an und die Zahl der Infizierten geht zurück.
Um die Verbreitung eines Virus einzudämmen, muss seine Reproduktionszahl also kleiner als 1 werden.
Welche Faktoren hierbei eine Rolle spielen, erklärt der Mathematiker Adam Kucharski (s.u.). In Deutschland überwacht das Robert Koch-Institut Infektionskrankheiten. Es geht davon aus, dass die Basisreproduktionszahl von SARS-Cov-2 zwischen 2,4 und 3,3 liegt. Jeder Infizierte steckt also ungefähr zwei bis drei weitere Personen an.
Anders ausgedrückt: Um die Epidemie unter Kontrolle zu bringen, müssen ungefähr zwei Drittel aller Übertragungen verhindert werden.
Da es bisher keine wirksamen Impfstoffe gibt und man sich noch nicht zuverlässig vor dem Virus schützen kann, werden sich voraussichtlich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung infizieren. Erst dann trifft das Virus auf mehr Infizierte als Gesunde und kann sich nicht weiterverbreiten.
Diese Zeit beträgt im Schnitt fünf bis sechs Tage, hat aber eine Spannweite von einem bis 14 Tagen.
Dies ist noch nicht abschließend geklärt. Momentan geht man davon aus, dass eine infizierte Person das Virus 24 bis 48 Stunden vor Auftreten von Symptomen weitergeben kann. Forschungen aus der chinesischen Metropole Shenzen legen nahe, dass ein Viertel aller Infektionen von Menschen übertragen wurde, die noch keine Symptome zeigten.
Sobald eine infizierte Person Symptome zeigt, ist sie bei mildem Krankheitsverlauf wahrscheinlich sieben bis zwölf Tage ansteckend, bei schlimmem Verlauf mehr als zwei Wochen. Das Virus wird über Tröpfchen weitergegeben. Je tiefer diese aus der Lunge kommen, desto länger zeigt das Virus sich aktiv. Man könnte sagen: Schleim schlägt Speichel. Eine Weitergabe über den Stuhl ist bei jetzigem Wissensstand unwahrscheinlich.
Der Fall-Verstorbenen-Anteil gibt das Risiko an, mit dem ein an SARS-Cov-2 Erkrankter schlussendlich auch verstirbt. Es ist jedoch nicht ganz einfach, dieses Risiko für die aktuelle Pandemie zu berechnen.
Das hat verschiedene Gründe: Zunächst ist der Fall-Verstorbenen-Anteil stets abhängig vom jeweiligen Kontext, von Zeit und Ort des Auftretens. Ob China, Italien oder USA: SARS-Cov-2 trifft jeweils auf unterschiedlich vorbereitete und ausgestattete Gesundheitssysteme, auf unterschiedliche Altersgruppen, auf Menschen mit unterschiedlichen Vorerkrankungen, auf unterschiedliche Formen des Zusammenlebens.
All diese (und noch mehr) Faktoren bedingen, wie anfällig eine Bevölkerung ist. Ein Vergleichen oder einfaches Übertragen von Zahlen ist daher nicht möglich.
Grundsätzlich hat zudem einen großen Einfluss, welche Zahlen man als Grundlage für die Berechnung des Fall-Verstorbenen-Anteils heranzieht. Würde man beispielsweise an Tag 1 der Epidemie die Zahl aller Verstorbenen durch die Zahl aller Erkrankten teilen, wäre die Zahl der Erkrankten sehr hoch, die Zahl der Verstorbenen hingegen verhältnismäßig klein. Der Anteil von Verstorbenen zu Erkrankten wäre fälschlicherweise also sehr gering. Dies konnten wir am Anfang der Pandemie in China beobachten.
Auf der anderen Seite ist davon auszugehen, dass viele Fälle nicht bekannt oder nicht erfasst sind. In diesem Fall ist der Anteil der Verstorbenen an der Anzahl aller Erkrankten wiederum unverhältnismäßig groß. Das war beispielsweise im Iran der Fall.
Der Mathematiker und Epidemiologe Adam Kucharski von der London School of Hygiene and Tropical Medicine geht davon aus, dass sich die zwei Effekte im Verlauf der Pandemie gegenseitig aufheben werden. Er schätzt, dass der echte Fall-Verstorbenen-Anteil 0,5 bis 2 Prozent beträgt, von 100 Erkrankten also eine oder zwei Personen sterben.
Kurz und knapp: Diese Zahl ist nicht bekannt. Zwar verfolgen und veröffentlichen Weltgesundheitsorganisation (WHO), Johns Hopkins Universität oder Robert Koch-Institut (RKI) die Zahlen der aktuell bestätigten Corona-Fälle, die Betonung liegt aber auf bestätigten Fällen. Diese können uns nur einen Hinweis darauf geben, wie groß die Zahl der tatsächlichen Fälle ist und wie schnell sich das Virus verbreitet. Sie ist abhängig davon, wie viele Menschen sich überhaupt testen lassen, beziehungsweise wie viele Tests in einem Land zur Verfügung stehen.
Anhand aktueller Sterbezahlen kann man Vermutungen darüber anstellen, wie hoch die tatsächliche Zahl der Infizierten sein könnte. Durch Hochrechnungen anhand der Todesfälle schätzt der Mathematiker Tomas Götz von der Universität Koblenz-Landau, dass es in Italien Ende Februar 40.000 Fälle gegeben haben müsste. Dies läge um einen Faktor 50 über der gemeldeten Zahl von 800 Fällen.
Diese Rechnung ließe sich aber nicht auf Deutschland übertragen, "da die aktuell vergleichsweise extrem niedrige Zahl von Todesfällen im internationalen Vergleich nicht passt". Ebenfalls fehlten in Deutschland Daten über die Fallzahlen, die in Krankenhäusern behandelt werden.
"Wenn Sie die interaktive Karte nicht sehen, hier der direkte Link der John Hopkins Universität."
Es fällt uns Menschen schwer, Wachstum zu verstehen, das nicht linear ist. Bei Wachstum denken wir intuitiv, dass etwas kontinuierlich größer wird: Heute eins, morgen zwei, in einer Woche sieben. Ein Virus aber vermehrt sich nicht linear, sondern exponentiell: Ein Infizierter steckt eine Person an. Diese zwei stecken wiederum zwei an. Die nun vier Infizierten stecken vier weitere Personen an und so weiter.
Das Befüllen eines Schachbretts mit Reiskörnern veranschaulicht dieses Wachstum: Stellen wir uns vor, wir sollen ein Schachbrett mit Reiskörnern füllen, angefangen bei A1 und sollen jeden Tag Reis ergänzen. Hätten wir ein lineares Wachstum, wäre das Schachbrett nach 64 Tagen mit 64 Körnern gefüllt. Bei einem exponentiellen Wachstum liegen nach 64 Tagen unglaubliche 9.223.372.036.854.775.808 Reiskörner auf dem Schachbrett.
Es ist manchmal verführerisch, die absoluten Fallzahlen in verschiedenen Ländern zu vergleichen. Dies greift aber zu kurz, da die Zahlen sehr schnell wachsen und morgen schon ganz anders aussehen als heute. Um die Verbreitung eines Virus nachzuverfolgen, muss man vielmehr seine Verdopplungsgeschwindigkeit betrachten. Um sich zu verdoppeln, braucht das Virus momentan immer weniger Zeit. Sobald die Verdopplungsgeschwindigkeit wieder abnimmt, infizieren sich zwar immer noch Menschen, das Virus ist aber auf dem Rückzug.
Adam Kucharski arbeitet an mathematischen Modellen infektiöser Erkrankungen, um deren Verlauf besser zu verstehen. Dieses Verständnis kann Politikern und Gesundheitsexperten helfen, politische Entscheidungen zu treffen, die die Verbreitung eines Virus eindämmen sollen.
In der Vergangenheit hat der Mathematiker dies bereits für Krankheiten wie Ebola, SARS und Influenza getan, nun forscht er an COVID-19. In seinem Buch "The Rules of Contagion: Why Things Spread - and Why They Stop" benennt er vier Parameter, die das Ansteckungspotenzial einer Krankheit beschreiben. Auf Englisch beginnen sie mit den Anfangsbuchstaben D-O-T-S (dots, auf deutsch: Punkte).
- Duration (Dauer): Entspricht der Dauer der Infektiosität. Je länger eine Person krank ist, desto länger kann sie auch andere Menschen anstecken. Je früher eine erkrankte Person von anderen isoliert wird, desto weniger Gelegenheit hat sie, das Virus an andere zu übertragen.
- Opportunity (Gelegenheit): Wie viel Chance hat das Virus, von einer Person zur nächsten zu gelangen? Diese Variable bildet quasi unser Sozialverhalten ab. Laut Adam Kucharski hat jeder Mensch unter normalen Umständen täglich etwa fünf Mal körperlichen Kontakt zu anderen Personen. Diese Zahl lässt sich reduzieren, wenn wir den sozialen Abstand erhöhen, zum Beispiel keine körperlichen Grüße mehr austauschen.
- Transmission probability (Übertragungswahrscheinlichkeit): Wie wahrscheinlich ist es nun, dass das Virus auch tatsächlich von einer Person auf die nächste übertragen wird, wenn zwei Menschen sich treffen? Adam Kucharski und sein Team gehen davon aus, dass dies bei jeder dritten Gelegenheit stattfindet.
- Susceptibility (Anfälligkeit): Geht noch einen Schritt weiter. Wenn das Virus übertragen wurde, wie wahrscheinlich erkrankt eine Person auch daran? Da es momentan keine Schutzmechanismen, keine Impfung, keine gesicherte Immunität, gibt, ist diese Zahl annähernd 100%.
Der Rest ist Mathematik: Multipliziert ergeben D, O, T und S die Reproduktionszahl. Alle vier Parameter sind Stellschrauben, um die Ausbreitung des Virus zu unterbinden. Normalerweise sind dafür insbesondere Impfungen wirksam. Da diese momentan noch nicht existieren, kann man lediglich an D, O und T arbeiten: Erkrankte isolieren, soziale Kontakte meiden, in die Armbeuge husten, Hände waschen.
Das Ziel der Maßnahmen ist momentan, "die Kurve zu verflachen" (englisch: "to flatten the curve"). Die Zahl der erkrankten Fälle soll die Kapazitäten von Gesundheitssystemen nicht übersteigen, damit Ärzte nicht vor der Entscheidung stehen, welche Patienten sie behandeln. Und welche nicht.
Warum aber unterscheidet sich der Anteil der Verstorbenen so dramatisch zwischen einzelnen Ländern? Warum stößt beispielsweise Italien an seine Grenzen, während die Fallzahlen in Deutschland ähnlich, die Sterbezahlen aber viel geringer sind?
Dieser Frage sind die Bonner Ökonomen Moritz Kuhn und Christian Bayer nachgegangen. Klinische Zahlen zeigen, dass die Sterblichkeit zunimmt, je älter eine erkrankte Person ist. Die Ökonomen gehen davon aus, dass die Möglichkeiten, sich anzustecken, vor allem im Arbeitsleben bestehen, dass sich also insbesondere die arbeitende Bevölkerung infiziert.
Nun gibt es verschiedene Modelle, wie Gesellschaften strukturiert sein können. Generationen können entweder getrennt leben wie in Land A oder nah zusammen wie in Land B (s. Grafik).
Die Ökonomen fanden heraus, dass der Fall-Verstorbenen-Anteil zunimmt, je mehr Erwerbstätige mit ihren Eltern zusammenleben, je größer also der Austausch zwischen den Generationen ist. Wenn ihre Theorie stimmt, sind weltweit insbesondere die Länder Indien, Taiwan und Thailand gefährdet, in Europa Serbien und Polen.
In asiatischen Ländern ließ sich dieser Trend nicht nachweisen. Dies könnte an unterschiedlichen Reinlichkeitsstandards und Arten körperlichen Zusammenlebens liegen, vermutet Christian Bayer.
Kuhns Handlungsempfehlung: An erster Stelle sollte der Kontakt zwischen alter und junger Bevölkerung weiter reduziert werden.
Er geht aber noch einen Schritt weiter: Wenn wir uns dem Virus erfolgreich entgegenstellen wollen, sollten wir unsere sozialen Netzwerke per se überdenken, ältere Menschen auch auf Kontakt zu Gleichaltrigen verzichten, Erwerbstätige zum Einverdienermodell zurückkehren. "Wir fahren gerade mit 180 km/h aufs Stauende zu. Das Einzige, was man machen kann, ist eine Vollbremsung. Und dann gucken, dass wir noch einigermaßen rechtzeitig zum Stehen kommen oder es zumindest nicht so kracht, wenn wir reinfahren."