Coronavirus: "Perfekter Nährboden" für Spielsucht
14. April 2020Solange es Sport gibt, hat es auch Wetten auf den Ausgang von Sportwettbewerben gegeben. Aber was passiert, wenn es - wie jetzt - kein Sport stattfindet, auf den man wetten könnte? Für die Buchmacher und Glücksspielunternehmen, die derzeit wegen der Auswirkungen der Coronavirus-Pandemie auf den weltweiten Sportbetrieb mit hohen Verlusten konfrontiert sind, ist die Antwort einfach: Sie bieten ihren Kunden neben virtuellen Spielautomaten, Online-Bingo, -Poker und -Casinospielen eben auch virtuelle Sportarten an - wie ein Blick nach Großbritannien zeigt, wenn man so will, dem "Mutterland der Sportwetten".
Für die Wettanbieter bedeutet das einen finanziellen Ausgleich, für diejenigen jedoch, die mit Spielsucht zu kämpfen haben und ihren Drang zum Glücksspiel nur schwer kontrollieren können, kann die aktuelle Entwicklung verheerend sein. "Ich glaube, es ist der perfekte Nährboden für Spielsucht", sagt James Grimes, ein genesender Spielsüchtiger aus Großbritannien, der in seiner Heimat mit der Organisation "The Big Step" gegen Glücksspielsponsoring und -werbung im Fußball kämpft.
"Für Menschen, die normalerweise nicht wetten, könnte das Glücksspiel jetzt ein Zeitvertreib sein, um die entstandene Leere zu füllen. Aber es gibt auch viele Menschen, die finanziell von der Corona-Krise negativ betroffen sind, und die Glücksspiel-Werbung erzeugt den Irrglauben, dass Glücksspiel eine schnelle Möglichkeit ist, Geld zu verdienen", sagt Grimes der DW.
Einschränkungen und Neuausrichtung
Einige Regierungen stimmen mit Grimes' Einschätzung der gegenwärtigen Gefahren überein. Die belgischen Wettbehörden haben vor kurzem ein Einzahlungslimit von 500 Euro pro Woche auf in Belgien betriebene Internet-Seiten angekündigt. Die spanische Regierung hat die Werbung für Glücksspiele auf ein Vier-Stunden-Fenster zwischen 1 und 5 Uhr morgens beschränkt, und Lettland hat Online-Glücksspiele verboten - so lange, bis die Coronavirus-Beschränkungen aufgehoben werden.
Allerdings sind das Ausnahmen: Die meisten Länder haben, wenn überhaupt, nur minimale Änderungen vorgenommen. Ein Branchen-Insider, der für einen Zahlungsanbieter arbeitet, der mit 50 Wettanbietern auf der ganzen Welt zu tun hat, sagt, dass der Übergang zu Casinospielen, virtuellen und geschicklichkeitsbasierten Spielen wie Poker und Backgammon schnell und nahezu universell erfolgt ist.
"Es hat einen deutlichen Mentalitätswandel der Menschen gegeben, weil ihnen gerade kein Sport zur Verfügung steht", sagt er der DW, möchte aber anonym bleiben. "Die meisten großen Anbieter werden neben reinen Sportwetten auch Casinos betreiben, nur wenige werden sich auf ein reines Sportwetten-Angebot beschränken."
Die Verluste bei den reinen Sportwetten, so schätzt der Experte, werden wahrscheinlich bei 80 Prozent liegen. "Es gibt immer noch einige Spiele in Weißrussland und einige Pferderennen." Daher müsse man sich das entgangene Geld in anderen Bereichen "zurückholen". "Die Gesamtverluste liegen bei den meisten Anbietern derzeit wahrscheinlich bei etwa 25 bis 30 Prozent."
Hohes Tempo
Eine kürzlich durchgeführte Studie der britischen Glücksspielkommission, die die Branche in ihrem Land reguliert, ergab, dass 1,2 Prozent der Menschen, die Glücksspielen nachgehen, ein Suchtproblem entwickelt haben. Betrachtet man nur die Online-Sportwetten, steigt diese Zahl schon auf 2,5 Prozent. Bei Online-Spielen wie Roulette, Spielautomaten und virtuellen Sportarten, die im Grunde genommen Zahlengeneratoren sind, sind es sogar 9,2 Prozent.
Auf Bet365, einer der weltweit größten Wettseiten, können die Kunden beispielsweise auf die Ergebnisse von Spielen völlig fiktiver Fußballmannschaften wetten. Dabei kann man Geld darauf setzen, wie das richtige Ergebnis lautet, wie viele Tore fallen, welches Team zuerst trifft und eine Vielzahl anderer "Spielereignisse".
Die Spiele bestehen aus etwa drei Minuten computergenerierter Höhepunkte, und sobald ein Spiel beendet ist, beginnt bereits das nächste. Die Häufigkeit, mit der ein Spieler Geld setzen kann, ist der Hauptgrund für das hohe Suchtpotenzial bei dieser Art von Spielen. Anstatt ein Spiel über 90 Minuten zu verfolgen oder etwa eine halbe Stunde zwischen zwei realen Pferderennen warten zu müssen, kann man umgehend versuchen, seine Verluste wieder wettzumachen - wobei oft direkt weitere Verluste entstehen.
Wetten auf virtuelle Wettbewerbe war früher eine Nische, in der nur wenige Spieler ihr Geld riskierten. Jetzt aber werden die Wetten auf den virtuellen Sport immer mehr zum Mainstream. Anfang April schalteten fast fünf Millionen Menschen den öffentlich-rechtlichen britischen Fernsehsender ITV ein, um das Virtual Grand National zu sehen, die computeranimierte Version des bedeutendsten Pferde-Hindernisrennens in Großbritannien. Das ist ungefähr die Hälfte der Zuschauer, die sich das im Normalfall das reale Rennen im Fernsehen ansehen würden. Zwar kam in Teil der Wettgewinne - etwa drei Millionen Euro - dem britischen National Health Service (NHS) für seinen Kampf gegen das Coronavirus zugute. Jedoch wittern Befürworter strengeren Glückspiel-Gesetzgebung auch etwas anderes dahinter: Den Wettanbietern sei es auch darum gegangen, neue Kunden zu gewinnen.
'Im Fadenkreuz der Glücksspielindustrie'
"Es wird eine ganze Reihe von 'Einmal-im-Jahr-Wettern' geben, die als Folge des Grand National jetzt auf den Mailinglisten der Buchmacher stehen und Marketingmaterial erhalten", sagt Charles Ritchie von Gambling With Lives, einer Organisation, die von Familien und Freunden junger Menschen gegründet wurde, die sich als direkte Folge des Glücksspiels das Leben genommen haben.
"Wir wissen, dass die Menschen aufgrund der Werbung spielen werden. Sie werden so an das virtuelle Glücksspiel herangeführt, von dessen Existenz die überwiegende Mehrheit vorher gar nichts wusste. Die Menschen geraten in das Fadenkreuz der Glücksspielindustrie. Sie werden regelrecht ins Visier genommen."
Buchmacher und Glücksspielfirmen verweisen auf ihre Beiträge zu verschiedenen Regulierungsbehörden, die die Sucht eindämmen sollen, aber der von der Spielsucht genesene Grimes ist besorgt, dass die Kombination von Isolation, finanziellen Sorgen und der Unfähigkeit, Verdrängungshobbys zu betreiben, zu Rückfällen bei Spielsüchtigen führen könnte. Außerdem werde es Menschen geben, die vorher keine Probleme mit Glücksspiel hatten, jetzt aber welche entwickeln könnten.
Enorme Auswirkungen
"Einige meiner schlimmsten Glücksspiel-Phasen waren, als der Fußball im Sommer pausierte und ich ihn durch alles Mögliche ersetzte: Online-Casinos, Spielautomaten, virtuelle Sportarten", erinnert er sich. "Es ging nicht darum, auf Sportereignisse zu wetten, sondern um die Idee des Glücksspiels an sich. Das war das, wonach ich süchtig war", erinnert er sich. "Es hätte alles Mögliche sein können."
Während viele durch das Fehlen des Sports lediglich frustriert und gelangweilt sein werden, gibt es eine beträchtliche Anzahl von Menschen, für die die Zwangspause im weltweiten Sport weitaus schlimmere Folgen haben könnte.