Corona gefährdet Ärzte und Pfleger
17. Juni 2020Es ist ein Foto mit Symbolcharakter: Die italienische Krankenschwester Elena Pagliarini liegt erschöpft neben einer Computertastatur, gezeichnet von einer langen Krankenhausschicht. Entstanden ist das Foto Anfang März, als das Coronavirus in Europa noch relativ neu war. Kurz darauf erkrankte Pagliarini selbst an COVID-19. Sie überstand das Virus und wurde Anfang Juni von Italiens Staatspräsident Sergio Mattarella gemeinsam mit 57 weiteren Bürgern für besondere Verdienste im Kampf gegen das Coronavirus ausgezeichnet. Die Krankenschwester darf nun den Titel "Cavaliere del Lavoro" ("Ritter der Arbeit") führen, wie die Nachrichtenagentur KNA berichtet.
Geschichten wie die Pagliarinis gibt es auf der ganzen Welt, in allen Ländern, in denen sich das Virus ausgebreitet hat. Denn Ärzte, Kranken- und Altenpfleger kämpfen an vorderster Corona-Front und sind deshalb selbst besonders gefährdet.
Wie hoch die Zahl der an COVID-19 erkrankten oder gar verstorbenen Mitarbeiter im Gesundheitswesen ist, lässt sich kaum gesichert sagen. Die größte Interessenvertretung für Pfleger und Krankenschwestern, der "International Council of Nurses" (ICN) geht von weltweit 230.000 infizierten Mitarbeitern im medizinischen Bereich und mehr als 600 Toten aus. Durchschnittlich sollen sieben Prozent aller Infizierten im Gesundheitsbereich arbeiten. Hochgerechnet auf alle bekannten COVID-19-Fälle weltweit könnte das bis zu 450.000 erkrankte Ärzte und Pfleger bedeuten. Eines der am stärksten betroffenen Länder ist Spanien. Rund 20 Prozent der Infizierten sollen Mitarbeiter des Gesundheitswesens sein.
Ungenaue Datenlage
Wirklich verlässliche Zahlen erheben aber nur wenige Länder. Spanien gehört zwar dazu, denn dort werden Infektionen unter medizinischem Personal gesondert aufgelistet. Allerdings könnte die Tatsache, dass Ärzte und Pfleger auch mehr getestet werden als andere Bevölkerungsgruppen, die Daten wieder verzerren. In anderen Ländern variieren die Angaben, wer genau unter medizinisches Personal fällt. Mal sind es ausschließlich Ärzte und Pfleger, mal werden auch etwa Mitarbeiter in Altenheimen dazugezählt.
In den USA veröffentlicht das "Centers for Disease Control and Prevention" (CDC), eine Behörde des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums, Infektionszahlen unter Gesundheitsmitarbeitern. Demnach haben sich in den USA mehr als 77.000 Ärzte, Krankenschwester und Pfleger mit Corona infiziert, 415 sind daran gestorben (Stand 15.06.) Allerdings sind auch diese Angaben nicht vollständig. Denn unter allen Corona-Fällen, die das CDC erhebt, ist nur bei rund einem Fünftel als Berufsangabe "medizinisches Personal" angegeben. Die Dunkelziffer könnte also sehr viel höher liegen.
Lage in Deutschland unübersichtlich
Auch in Deutschland sind die Zahlen ungenau. Das Robert-Koch-Institut (RKI) gibt zwar an, dass sich mehr als 13.400 Mitarbeiter in Arztpraxen und Krankenhäusern infiziert haben, 20 starben. Ungenauer wird es aber bei Pflegeeinrichtungen. Denn die Mitarbeiter dort werden in den Daten zusammengefasst mit Obdachlosenunterkünften, Flüchtlingsunterkünften und Justizvollzuganstalten, sodass auch in Deutschland unklar ist, wie viele Pfleger sich außerhalb von Krankenhäusern mit dem Coronavirus angesteckt haben.
Deutschland habe erst nach und nach lernen müssen, welche Gefahr für medizinisches Personal vom Virus ausgeht, sagt der Gesundheitsexperte an der Universität Bayreuth und ehemaliges Mitglied des Ethikrats, Eckhard Nagel, der DW. "In anderen Ländern wie Großbritannien oder Italien, die mit einer Überforderung des Gesundheitssystems konfrontiert waren, sind ganze Teams in Krankenhäusern ausgefallen. Das war so in Deutschland nicht der Fall. Aber, dass sich auch bei uns nach und nach viele bei der Versorgung von Infizierten angesteckt haben, mussten wir erst im Nachhinein lernen."
Der Fingerabdruck des Virus
Der prominenteste Fall ist wohl der chinesische Arzt Li Wenliang, der als einer der ersten vor dem Coronavirus warnte und dann selbst daran verstarb. Im Iran berichtet die Nachrichtenagentur AP von dem Arzt Mohammad Bakhshalizadeh, der zu Beginn der Pandemie um die 70 Patienten täglich betreute, meist ohne Schutzkleidung. Im März starb der Mediziner. AP schätzt, dass allein in den ersten 90 Tagen der Pandemie im Iran jeden Tag ein Mitarbeiter des Gesundheitswesens an COVID-19 verstarb.
Für die Pflegevereinigung ICN sind das mehr als nur Einzelschicksale. Das Krankheitsbild von Ärzten und Schwestern könnte Hinweise auf "den Fingerabdruck des Virus" geben, wie ICN-Direktor Howard Catton im Gespräch mit der DW sagt. "Die Daten könnten uns Aufschluss darüber geben, wo sich das medizinische Personal angesteckt hat, wie gut sie geschützt waren und welche Gruppe besonders gefährdet ist", sagt Catton. Es könne sein, dass bestimmte ethnische Minderheiten, die mit asymptomatischen Patienten arbeiten, besonders betroffen seien. "Sollte es eine zweite Corona-Welle geben, brauchen wir diese Informationen. Um das Personal zu schützen - und auch, damit genügend Pfleger da sind, um eine zweite Welle zu bewältigen", sagt Catton. Sein Verband fordert deshalb, dass alle Länder systematisch Daten erheben. Das sei auch für die Länder wichtig, die sich noch inmitten einer ersten Welle befänden, wie einige Staaten in Südamerika.
Defizite des Gesundheitssystems offengelegt
Besonders in Brasilien ist das medizinische Personal einer hohen Infektionsgefahr ausgesetzt. Mindestens 157 Krankenschwestern und Pfleger sind an COVID-19 gestorben, laut ICN so viele wie nirgends sonst.
Bisher hat die Weltgesundheitsorganisation WHO noch keine Empfehlung an ihre Mitgliedsstaaten herausgegeben, systematisch Infektionen unter medizinischem Personal zu erfassen. Das sei aber notwendig, sagt Catton vom ICN. "Das Virus hat gezeigt, dass die Gesundheitssysteme weltweit nicht genügend vorbereitet waren."
Deutschland habe bereits erste Lehren aus der ersten Welle der Corona-Pandemie gezogen, sagt Gesundheitsexperte Nagel, der länger als 30 Jahren Arzt ist. "Ich habe mir nicht vorstellen können, dass in Deutschland Schutzkleidung mal knapp werden könnte. Da wurde nachjustiert."
Auch der Blick auf andere Länder lehrt viel über den Umgang mit Corona. Nagel ist Co-Präsident des chinesisch-deutschen Freundschaftskrankenhauses "Tongji" in Wuhan in China. Dort habe sich gezeigt, dass die Schichten auf Corona-Stationen mit besonders infektiösen Patienten sechs Stunden nicht überschreiten sollten. "Die Konzentration muss hoch bleiben, sonst passieren Fehler. Außerdem müssen die Schutzkleidung und der eigene Körper des Personals adäquat gereinigt werden, damit das Virus nicht weitergetragen wird. Das kostet Zeit."
Während sich weltweit weiterhin Ärzte und Pfleger mit dem Coronavirus anstecken, sind noch immer viele Fragen ungeklärt: Auf welcher Station besteht die höchste Ansteckungsgefahr? Sind bestimmte ethnische Gruppen besonders betroffen? Welche Schutzausrüstung braucht ein Pfleger, je nachdem, wo er arbeitet? Die Antworten auf diese Fragen könnten helfen, eine mögliche zweite Corona-Welle zu bewältigen.