Coronavirus: Rechtsstaatlichkeit unter Druck
16. April 2020Amnesty International sieht Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Europa zunehmend gefährdet. Im vergangenen Jahr hätten einige Regierungen versucht, die Unabhängigkeit der Justiz auszuhöhlen und rechtsstaatliche Prinzipien auszuhebeln, heißt es im neuen Jahresbericht der Menschenrechtsorganisation. Die Corona-Pandemie verschärfe diese Trends.
"Dem Schutz der Menschenrechte kommt gerade in Krisen wie einer globalen Pandemie besondere Bedeutung zu", sagte der Deutschland-Chef von Amnesty, Markus Beeko. "Übermäßig gefährdete Menschen wie Obdachlose oder Asylsuchende müssen ebenso geschützt werden wie grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien geachtet."
Viele Maßnahmen im Kampf gegen das Coronavirus seien zum Schutz der Gesundheit zwar notwendig, erklärte Amnesty. Doch einige Regierungen nutzten die Pandemie zur Aushöhlung von Rechtsstaatlichkeit, Diskriminierung, Repression oder Zensur. Oft gehörten generell ausgegrenzte und benachteiligte Gruppen zu den zusätzlich gefährdeten Menschen. "Regierungen haben sicherzustellen, dass ihre Maßnahmen mit internationalen und regionalen Menschenrechtsabkommen im Einklang stehen", sagte Beeko.
Amnesty kritisiert im Zusammenhang mit der Corona-Krise vor allem Ungarn, Polen und die Türkei. In Ungarn habe die Regierung die Pandemie zum Anlass genommen, um ihren "Angriff auf Menschenrechte und Rechtsstaat" fortzusetzen, sagte die Europa-Expertin von Amnesty, Janine Uhlmannsiek. Ministerpräsident Viktor Orban nutze die Krise als Vorwand, um sich unbegrenzte Macht zu verschaffen. Gemeint ist ein Gesetz, das es der Regierung erlaubt, auf unbestimmte Zeit per Dekret zu regieren. EU-Kommissionschef Ursula von der Leyen hat Ungarn deswegen mit einem Strafverfahren gedroht.
EU mitverantwortlich für Menschenrechtsverletzungen
Auch der polnischen Regierung wirft Amnesty vor, die Krise für repressive Maßnahmen zu nutzen. Dort debattiere im Schatten der Pandemie das Parlament darüber, den Zugang zu Abtreibungen weiter einzuschränken und Sexualaufklärung zu kriminalisieren. In der Türkei habe das Parlament zwar beschlossen, im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie bis zu 100.000 Gefangene freizulassen, was angesichts der überfüllten und unhygienischen türkischen Gefängnisse ein sinnvoller Schritt sei, sagte Uhlmannsiek. Doch die vielen inhaftierten Journalisten, Menschenrechtler und Oppositionelle seien davon ausgeschlossen.
Den EU-Mitgliedsstaaten hält Amnesty vor, mitverantwortlich für Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen zu sein, indem sie die Kontrolle der Grenzen "anderen Ländern mit fragwürdiger Menschenrechtsbilanz" überließen. Der international verbriefte Flüchtlingsschutz und der Schutz menschlichen Lebens seien der Migrationskontrolle geopfert worden, betonte Beeko.
Prüfstein für die Europäische Union
"Es ist ein Prüfstein für die Europäische Union, wie sie den zunehmenden Angriffen einzelner Regierungen auf die Rechtsstaatlichkeit wirksam entgegentritt", sagte Beeko. Die aktuelle Instrumentalisierung der Pandemie offenbare, "wie wenig ihr das bislang gelungen ist". Von der Bundesregierung forderte Amnesty klare Zeichen, wenn Deutschland ab Mitte des Jahres die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt.
Der deutschen Regierung attestiert Amnesty bisher eine "gute Abwägung" zwischen Pandemie-Bekämpfung und Einschränkung von Grundrechten. Mit Blick auf das Demonstrationsrecht betonte Deutschland-Chef Beeko aber, dass politische Meinungsäußerungen im öffentlichen Raum bei einem längeren Anhalten der Pandemie durch Lockerungen möglich gemacht werden müssten. Das Kontaktverbot lässt öffentliche Versammlungen derzeit nicht zu.
mir/se (dpa, epd, Amnesty International)