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"Containern": Vom Müll auf den Tisch

Manuela Kasper-Claridge26. Mai 2015

In Frankreich dürfen große Supermärkte abgelaufene Lebensmittel nicht mehr einfach wegwerfen. Doch es geht auch ohne Gesetzgeber: In Erlangen haben Studenten die Initiative ergriffen und leben vom "Containern".

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Lebensmittel aus Müll-Containern auf Tisch drapiert (Foto: Manuela Kasper-Claridge)
Bild: DW/M. Kasper-Claridge

"Deutschland ist so ein reiches Land, hier gibt es sogar gutes Essen im Müll", sagt Luis. Der 27- jährige Kolumbianer studiert im fränkischen Erlangen und wohnt in einer studentischen Wohngemeinschaft. Er und seine vier Mitbewohner ernähren sich fast ausschließlich von dem, was sie in den Containern der großen Supermärkte finden. In Kolumbien wäre er nie auf die Idee gekommen, in die Mülltonnen zu schauen. "Da findet man so etwas Gutes auch nicht", sagt Luis mit Nachdruck. Seine deutschen Mitbewohner haben ihm erst das "Containern", wie sie es nennen, beigebracht.

Nadja wohnt mit Luis in der WG und ist 25. Die Studentin organisiert die meisten Streifzüge durch die Lebensmittelcontainer. "Das ist eine unglaubliche Verschwendung, was alles weggeworfen wird. Ich hätte ein schlechtes Gewissen, wenn ich das nicht nutzen würde", sagt sie und gerät ins Schwärmen über einige ihrer Fundstücke: "Weißt du noch als wir die Fruchtzwerge gefunden haben", fragt sie Lara. Die weiß ganz genau, warum etwas im Müll landet: "Die hatten die Fruchtzwerge nur weggeworfen, weil die Packungen auseinander gerissen waren und das Mindesthaltbarkeitsdatum lediglich auf einer Seite stand. Die dürfen das dann nicht mehr verkaufen."

#Mülltaucher #containern gegen #foodwaste

Wenigstens alle 14 Tage klappern sie spätabends die Mülltonnen von Supermärkten in der Umgebung ab. Ausgerüstet mit Plastikhandschuhen, Tüten und Taschenlampen öffnen sie nicht verschlossene Container und finden Berge von Grillfleisch, kiloweise Reis, Wurst, Brot und Obst. "Ich freue mich immer, wenn Physalis dabei ist", lacht Michael, Student der Medizin und behauptet, noch nie so viel Obst gegessen zu haben wie heute, wo er sich mit der WG im Wesentlichen von den Müllcontainern ernährt.

Abgepackter Salat und Hackfleisch aus Müll-Container (Foto: Manuela Kasper-Claridge)
Was nicht mehr verkauft werden kann, landet im Müll ...Bild: DW/M. Kasper-Claridge

Das "Containern" hat sich in den letzten Jahren zu einer richtigen Bewegung entwickelt. Unter den Suchbegriffen #containern, #containerdiving, #Mülltaucher oder #foodwaste tauschen sich auf Twitter überwiegend junge Menschen aus und geben einander Tipps. Auch auf Facebook gibt es entsprechende Plattformen. Elf Millionen Tonnen Lebensmittel sollen in Deutschland jedes Jahr auf dem Müll landen, so die Schätzungen. Waren im Wert von weit über 20 Milliarden Euro werden einfach weggeworfen, sagen Experten.

Gesundheitsrisiken durch Müll

Den großen Lebensmittelketten, die Mitverursacher dieser Verschwendung sind, ist das Thema sichtlich unangenehm. Eine schriftliche Anfrage bei Deutschlands größtem Discounter Aldi bleibt unbeantwortet. Die Zentrale des Discounters Lidl zeigt sich gesprächiger. "Lidl ist grundsätzlich bestrebt, das Entsorgen von Lebensmitteln zu vermeiden. Die Haltbarkeitsdaten der Lebensmittel werden in unseren Filialen regelmäßig und systematisch überprüft", erklärt die Pressestelle. Das Unternehmen betont, dass verzehrfähige und lebensmittelrechtlich unbedenkliche Lebensmittel an Tafeln zur Verteilung an Arme weitergegeben werden. Restmüll werde so entsorgt, dass er für Externe nicht zugänglich sei.

Thomas Bonrath von der Rewe Group behauptet, dass es in den Märkten seines Unternehmens keine nennenswerten Probleme mit "Containern" gebe. Mahnend fügt er hinzu, dass Mülltaucher nicht immer eindeutig erkennen könnten, ob Waren mit abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdaten tatsächlich noch genießbar seien. Dies gelte etwa für Schimmel, den man nicht immer wahrnehme.

Auch die Lebensmittelkette Kaufland argumentiert mit Gesundheitsrisiken: "Es ist uns bekannt, dass es hin und wieder vorkommt, dass unbefugte Personen sich Zutritt zu unserem Wareneingang verschaffen und aus den Restmülltonnen Waren entnehmen. Wir raten dringend davon ab, da wir keine Haftung für die Unversehrtheit der Gesundheit übernehmen können", so die Pressestelle.

Ein Haufen Hackfleisch-Packungen (Foto: Manuela Kasper-Claridge)
Bild: DW/M. Kasper-Claridge

Signal gegen die Verschwendung

Die Erlangener Studentenwohngemeinschaft kann diese Argumentation nicht nachvollziehen. Sie haben ihre Ausflüge in die Abfallcontainer mit vielen Fotos dokumentiert und sind sich sicher, dass Ihre Ernährung aus den Containern auch ein Signal gegen Verschwendung ist. Bevor sie Lebensmittel verwenden, haben sie genau überprüft, ob sie noch genießbar sind. Verschimmeltes wird selbstverständlich weggeworfen und alles wird aufwendig gewaschen und sortiert. Dann landet es bei ihnen im Kühlschrank. Einiges geben sie auch an befreundete Studenten ab. Nicht alle sprechen mit ihren Eltern darüber. Kerstin, die Eletrotechnik studiert, erzählt, dass ihre Eltern entsetzt waren, als sie ihnen vom "Containern" berichtete. Ihre Tochter habe das doch nicht nötig, sagten sie. Jetzt schneidet die 24-jährige das Thema einfach nicht mehr an.

Grillfleisch für alle - aber nur am Rande der Legalität

Die rechtliche Situation ist nicht eindeutig. Sind die Container verschlossen, dürfen sie nicht aufgebrochen werden. Das wäre Diebstahl. Sind sie offen und stehen frei zugänglich, handelt es sich maximal um Hausfriedensbruch. Wer Lebensmittel aus dem Container fischt, muss in der Regel keinen großen Ärger mit der Justiz befürchten. Nadja und ihre Freundin wurden einmal beim Containern von einer Marktmitarbeiterin erwischt und festgehalten. Die herbeigerufene Polizei verzichtete auf eine Anzeige.

Kühlschrank mit Lebensmitteln aus Müll-Containern (Foto: Manuela Kasper-Claridge)
... und füllt den "Mülltauchern" den Kühlschrank.Bild: DW/M. Kasper-Claridge

Die Soziologiestudentin legt Wert darauf, dass sie alle Plätze wieder ordentlich verlassen und den Müll wegräumen, nachdem sie sich Waren rausgefischt haben. Manchmal drapieren sie die Lebensmittel in den Tonnen sogar so, dass niemand merkt, dass sie etwas herausgenommen haben. Alle 14 Tage verbringt die Wohngemeinschaft mehrere Stunden mit dem Finden, Reinigen und Sortieren der Lebensmittel. Manchmal gehen sie auch öfter los, weil sie schauen wollen, was es so gibt. "Besonders lohnt es sich nach Feiertagen. Nach Sylvester gab es tonnenweise Raclette", erzählt Lara.

Luis, der Kolumbianer, sagt mit einem Lächeln, dass er darüber schockiert sei, was man in Deutschland im Müll finde. "Manchmal ist es sogar so viel, dass wir eine Party machen können. Da gibt es Grillfleisch für 10-15 Leute", sagt er und schüttelt verwundert den Kopf. Seinen Eltern im fernen Baranquillia erzählt er davon aber lieber nicht.

Mitarbeit: Benjamin Restle