"Close Up": Fotografie von Martin Schoeller
20. Juni 2020Diese porentiefen Nahaufnahmen fielen auf in der Fotoszene: Porträts, die jede Falte, jede Reliefnuance eines Gesichtes abbilden. Intime Momentaufnahmen, die auch von großem Vertrauen zum Mann auf der anderen Seite der Kamera erzählen. "Close Up" nennt der deutsche Fotograf Martin Schoeller seine eindrucksvollen Porträtfotos.
Großformatige Fotografien und auch noch nicht gezeigte, neue Arbeiten sind jetzt in der Berliner Fotogalerie Camera Work zu sehen, die sich der Fotokunst verschrieben hat. Eine klassische Eröffnung wird es wegen der Corona-Auflagen nicht geben. Ab dem 20.6.2020 ist die Bilderschau mit 40 Fotoarbeiten für das Publikum geöffnet. Alle Porträts können auch online in Ruhe betrachtet werden.
Steile Karriere in New York
Martin Schoellers Entschluss, 1993 nach New York zu ziehen, war folgenreich: Drei Jahre lang arbeitete er als Assistent für Starfotografin Annie Leibovitz. Mit ihr und ihrem Team reiste er um die Welt und lernte viele Stars aus der Film- und Musikbranche kennen. Der junge Mann mit den auffälligen Dreadlocks eignete sich schnell alle Finessen der professionellen Fotografie an, die den künstlerischen Fotografen vom reinen Techniker unterscheiden. Das Handwerk guter Fotografie hatte er von der Pike auf beim Berliner Lette-Verein gelernt.
Schon bald ging der junge Deutsche eigene Wege. Als freier Profi-Fotograf in den USA suchte er seinen persönlichen Stil, bot seine Ideen verschiedenen Redaktionen an. "Am Anfang haben die Redakteure meine Close-Ups gar nicht verstanden", erzählt Schoeller im DW-Interview. "In der Zeit habe ich vor allem Freunde fotografiert. Bis ein Fotoredakteur mir mal einen Fototermin, ein Shooting mit Vanessa Redgrave, gab."
Dieses Shooting katapultierte ihn von einem Tag auf den anderen in eine andere Liga. "Das ging dann los wie eine Lawine. Da hatte ich 1999 auf einmal 127 Jobs, das war schon überwältigend. Geschlafen habe in der Zeit im Durchschnitt vier Stunden, weil es einfach so viel Arbeit war." Schoeller staunt selbst heute noch über seinen rasanten Karrierestart.
Klare Haltung, keine Starallüren
Inzwischen kann der international gefragte Fotograf alles gelassener angehen. Ein zuverlässiges Team von Mitarbeitern und Assistenten arbeitet ihm zu und bereitet die Fotoshootings extrem professionell vor. Aber wenn die zahlreichen Lampen- und Kamerakoffer verladen werden, packt Schoeller auch selbst mit an. Starallüren kennt der 52-jährige Deutsche nicht. Humor gehört für ihn dazu, um die Präzision für die Profiarbeit aufzubringen.
Geboren wurde Martin Schoeller 1968 in München, aufgewachsen ist er in Frankfurt am Main. Sein Vater war der bekannte TV-Journalist und Literaturkritiker Wilfried F. Schoeller (1941-2020). Seine Schwester Bettina ist Regisseurin. Kunst und Literatur gehörten zum Familienleben.
Martin interessierte sich für Fotografie. Was er an der Berliner Lette-Schule gelernt hat, ist bis heute sein Fundament. Die seriellen Arbeiten von August Sander und Bernd und Hilla Becher prägten nachhaltig sein Denken und seine Sichtweise auf die Fotografie als Kunstform. Erstklassiges Handwerk eben. "Anfangs habe ich gedacht: Warum immer die gleichen Wassertürme? Bis ich begriff, dass ich mich an jedes einzelne Detail erinnern konnte", erzählt er mit Bewunderung in der Stimme.
Reporter für den "New Yorker"
Der Termin für ein Fotoshooting mit Tony Hawk, mehrfacher Skateboard-Weltmeister und YouTube-Star - übrigens derselbe Jahrgang wie Schoeller - bescherte dem jungen Fotografen aus Deutschland einen festen Vertrag beim Magazin "The New Yorker". "Da war ich dann 13 Jahre als Fotograf angestellt", erinnert er sich im Interview.
Inzwischen sind seine Close-Ups von Prominenten auf den Titelseiten der internationalen Magazine zu finden: von "Time" bis "Vanity Fair", von der "New York Times" über den "Stern" bis zum Musikmagazin "Rolling Stone". 2000 wurde er vom "Life"-Magazin als "Best Talent" ausgezeichnet.
Martin Schoeller reist ständig rund um den Globus, um seine Shootings und auch eigene Projekte zu realisieren. Und regelmäßig arbeitet er als Fotoreporter für die populärwissenschaftliche Zeitschrift "National Geographic", die ihm seine Projektarbeit "Identical" ermöglichte. Neben den lukrativen Engagements gehört für ihn soziales Engagement dazu: Die Erlöse für die Porträts von Obdachlosen und Transgender-Frauen spendet er großzügig.
International gefragt
Seit 15 Jahren sind seine Arbeiten in Ausstellungen zu sehen. Die erste zeigt 2005 die Galerie Camera Work in Berlin, die ihn als Künstler exklusiv in Deutschland vertritt. Später kamen Museen und Galerien in New York, Boston und Beverly Hills dazu. Seit 20 Jahren managt Anke Degenhard, Agentin, Kuratorin und Spezialistin für zeitgenössische Fotografie, seine Fotoausstellungen. Oft findet sie mit Gespür genau den passenden Ort für seine Arbeiten, wie die ehemalige Koksmischanlage auf der Zeche Zollverein.
2020 ist Martin Schoeller in Deutschland gleich mit drei Ausstellungen vertreten: Auf der Zeche Zollverein in Essen mit "Survivors", für die er in enger Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Yad Vashem 75 Holocaust-Überlebende in Israel fotografiert hat. Das NRW-Forum in Düsseldorf zeigt noch bis Juli 2020 seine Werkschau. Die Galerie Camera Work in Berlin stellt neben Bekanntem auch ganz neue Arbeiten, unter anderem von Herbert Grönemeyer, aus.
Werkschau in Düsseldorf
Das vielleicht wichtigste Projekt des engagierten Fotografen ist derzeit im NRW-Forum in Düsseldorf zu sehen: Porträts von Todeskandidaten, die viele Jahre unschuldig in US-Gefängnissen saßen - und zum Teil im letzten Moment vor der Hinrichtung freigesprochen wurden. Gesichter, in die sich eine harte persönliche Geschichte eingegraben hat.
Es dauerte lange, bis der Fotograf, der in New York lebt und arbeitet, dafür Vertrauen bei den Protagonisten aufbauen konnte. Aber was in diesen eindrucksvollen Porträts von Schoeller zu sehen ist, geht weit über gängige Porträtfotografie hinaus. Es sind Lebenslinien, die er dort eingefangen hat.
Die neuen Fotografien, die er in der Berliner Ausstellung bei Camera Work ausstellt, haben eine ähnliche Anmutung. Prominente deutsche Künstler, Filmemacher und Musiker wie Urgestein Udo Lindenberg und Herbert Grönemeier tragen deutlich ihre Lebensgeschichte(n) im Gesicht.
Vor allem Campino, dem Frontsänger der Düsseldorfer Punkband "Die Toten Hosen", sieht man an, dass seine exzessiven Konzertauftritte und der jahrelange Punk auf der Bühne tiefe Spuren in seinem Gesicht hinterlassen haben. Schoeller hat sie behutsam eingefangen.