"China könnte Deutschland in zehn Jahren überholen"
20. Dezember 2005
DW-WORLD: Chinas Wirtschaft ist ein Sechstel größer als
bisher gedacht. Nach dem ersten wirtschaftlichen Zensus seit fast einem Jahrzehnt korrigierte das Nationale Statistikamt in Peking die Größe des Bruttoinlandsprodukt für 2004 um 16,8 Prozent auf 15,9878 Billionen Yuan (heute 1,65 Billionen Euro) nach oben. Wann wird China die USA, Japan und Deutschland als größte Industrienationen überholt haben?
Klaus Grimm: Zunächst muss man relativieren. Wirtschaftsmacht ist hier gemessen am Bruttosozialprodukt (BSP) und nicht nach Pro-Kopf-Einkommen. Das ist ein ganz zentraler Unterschied. Bei 1,3 oder 1,4 Milliarden Einwohnern ist es leichter eine große Wirtschaftmacht der Welt - gemessen am BSP - zu werden. Hier wirkt sich das Gesetz der großen Zahl aus. Das bedeutet aber immer noch nicht, dass China ein entwickeltes Land ist. Unter diesem Vorbehalt schätze ich, dass es noch etwa 30 bis 40 Jahre dauern wird, bis China auf Platz eins ist.
Wie nahe ist China schon an Deutschland dran?
Es ist schon ziemlich nah dran. Es könnte Deutschland schon in zehn Jahren überholen.
Welche Stärke soll denn mit diesen neuen Zahlen hervorgehoben werden?
Hier wird auf die politische Stärke Chinas angespielt. Solche allgemeinen statistischen Zahlen sagen viel oder eben sehr wenig aus. BSP ist bei einer so großen Bevölkerungszahl, wie gesagt, stark zu relativieren. Aber China hat ja den Ehrgeiz, im Weltmaßstab eine bedeutende Macht zu sein - auch wirtschaftlich. Man ist da sehr ehrgeizig nicht nur regional gesehen, zum Beispiel in Bezug auf Japan, sondern weltweit. Der eigentliche Vergleichsmaßstab für China ist die USA.
Ist China auf dem Weg, den USA gefährlich zu werden - als Wirtschaftsmacht?
Nein, das sehe ich nicht. Diese Zahl des Bruttosozialprodukts ist sehr unbedeutend. Sie sagt sehr wenig über die eigentliche Wirtschaftkraft aus. Wenn Sie das Bruttosozialprodukt oder Bruttoinlandsprodukt pro Kopf berechnen, dann ist China noch auf lange Sicht ein sich entwickelndes, industrialisierendes Land. Die Erfolgsmeldungen aus China kommen ja alle aus Ostchina, entlang der Küste, und dann gibt es aber ein sehr starkes Gefälle nach Zentral- und Westchina hin. Da gibt es Regionen, die man als Armutsregionen bezeichnen muss.
Ein Ergebnis der Studie, an der die Weltbank beratend mitgewirkt hat, ist, dass die chinesische Wirtschaft um fats 20 Prozent größer sein soll als angenommen. Überrascht Sie das?
Nein, das überrascht mich nicht. Offizielle Statistiken sind die eine Sache, aber es gibt ja immer auch eine Schattenwirtschaft, auch bei uns, die gibt es überall. Rechnet man die dazu, kommt freilich mehr dazu. Abgesehen davon: Wir wissen nicht, wie vertrauenswürdig die Statistiken der Chinesen sind.
Inwiefern will China mit solchen Zahlen auch Politik machen?
Sicher, hier geht es um Image, um Status. Das ist für China sehr wichtig. Die Regierung verwertet solche Dinge propagandistisch. Mit solchen Studien wird Politik gemacht.
Will man der Welt damit Furcht einflössen?
Man will die Welt beeindrucken und sagen: 'Wir Chinesen sind wieder jemand. Wir sind eine Weltmacht', nicht nur politisch - man ist ja bereits im Sicherheitsrat der UNO - sondern wir werden es auch wirtschaftlich sein. Und die Zahlen zum Sozialprodukt Export sind sicher auch beeindruckend auf den ersten Blick. Schaut man aber näher hin, dann wird das doch rasch weniger beeindruckend. Bei der Exportstruktur stehen zwar nicht mehr Textilien, Spielzeuge und Lederwaren oben, sondern mechanische und Elektroartikel, ganz genauso wie bei deutschen Exporten. Nur man muss sehen, dass es einen riesigen Unterschied im Technologieniveau und Qualitätsniveau zwischen Deutschland und China gibt. China exportiert eben auf einem anderen Niveau.
Klaus Grimm ist Hauptgeschäftsführer der Deutschen Handelskammer in China und Delegierter der Deutschen Wirtschaft in Shanghai und Peking, a. D.