Karlsruhe fordert Triage-Regelungen ein
28. Dezember 2021Der Bundestag muss "unverzüglich" Vorkehrungen treffen, um Menschen mit Behinderungen im Fall einer sogenannten Triage zu schützen. Das hat das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe entschieden.
Das Gericht gab damit einer Klage von neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen statt. Sie befürchten, dass sie bei einem Überlaufen der Intensivstationen in der Corona-Pandemie benachteiligt werden könnten. Bei der Triage wird entscheiden, wer in Notlagen zuerst versorgt wird.
Politische Pflicht in Pandemiezeiten
Juristen leiten aus dem deutschen Grundgesetz eine Pflicht des Staates ab, sich schützend und fördernd vor menschliches Leben zu stellen. Aus diesem Schutzauftrag folge in der Pandemie eine Handlungspflicht für den Gesetzgeber, so das Verfassungsgericht. Diese habe er verletzt, weil er keine entsprechenden Vorkehrungen getroffen habe.
Eine Behinderung dürfe bei der Zuteilung überlebenswichtiger, nicht für alle zur Verfügung stehender intensivmedizinischer Behandlungsressourcen kein Grund für eine Benachteiligung sein. Im Grundgesetz heißt es: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden."
"Bedarf breiter Diskussion"
Das Bundesverfassungsgericht habe damit die Notwendigkeit erkannt, dass auch im Falle einer Triage Diskriminierungskriterien nicht gelten dürften, sagt der Inklusionsaktivist Constantin Grosch im Gespräch mit der DW. Grosch war einer von neun Menschen mit Behinderungen und Vorerkrankungen, die die Verfassungsbeschwerde eingereicht hatten. Er sei sehr erfreut über das Urteil, so Grosch. Nun sei klar, dass "Ärztinnen und Ärzte nicht völlig alleine und selbstständig Triage-Kriterien aufstellen müssen, sondern dass es dafür einer breiten Diskussion in der Gesellschaft bedarf."
Ihm sei wichtig, dass dafür nun ein Prozess in Gang gesetzt werde, bei dem auch die Vertretungen von Menschen mit Behinderung gehört würden, sagt Grosch. "Ich persönlich habe natürlich die Befürchtung, dass ich im Falle einer Erkrankung im Krankenhaus einfach nur wegen meiner Behinderung und aufgrund äußerlicher Merkmale abgelehnt und aussortiert werde. "Deswegen haben wir uns an das Verfassungsgericht gewandt."
Mediziner hatten sich selbst Regeln gesetzt
Ebenfalls erfreut über das Urteil zeigt sich der Intensivmediziner Uwe Janssens, Sprecher der Sektion Ethik der Fachgesellschaft für Intensiv- und Notfallmedizin in Deutschland (DIVI). " Die Entscheidung stärkt unsere Empfehlungen aus dem vergangenen Jahr zur Priorisierung in solch einer tragischen Entscheidungssituation", sagt Janssens der DW. "Das Bundesverfassungsgericht hat bestätigt, dass das Kriterium der Erfolgsaussicht anzuwenden ist."
Im März 2020 hatte die DIVI einen ersten Leitfaden für die Entscheidungsfindung in Triage-Situationen herausgegeben. Er stellt die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten in den Mittelpunkt der Überlegungen. Janssens sagt, er sei zwar froh, dass das Bundesverfassungsgericht nun auch den Gesetzgeber in die Verantwortung nehme. "Ich glaube aber nicht, dass der Gesetzgeber in der Lage ist, medizinische Kriterien in ein Gesetz zu gießen, welches dann am Bett des Patienten einzusetzen ist. Er hat Rahmenbedingungen zu schaffen, um den Sorgen der Behinderten entgegenzuwirken. Wie der Gesetzgeber das macht, und zwar sehr schnell, da sind wir nun sehr gespannt."
Überlebenswahrscheinlichkeit im Mittelpunkt?
"Das ist ein guter Tag für den Patientenschutz", sagt der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Es müsse im politischen Diskurs im Bundestag nun darum gehen, dass die Schwächsten nicht unter die Räder kommen, so Brysch im Gespräch mit der DW. "Das sind die Behinderten. Aber vergessen wir nicht, dass fast jeder Hochbetagte heutzutage auch ein behinderter Mensch ist. Wenn es nur nach der Erfolgsaussicht einer Therapie geht, dann könnten diese Gruppen hinten runter fallen."
Was nämlich, wenn Ärzte aufgrund einer Behinderung die Überlebenswahrscheinlichkeit eines Patienten etwa beim Einsatz einer künstlichen Lunge geringer schätzen als bei einem Patienten ohne Behinderung? Für Beate Rudolf, Direktorin des Deutschen Instituts für Menschenrechte, ist klar: "Aus der Entscheidung ergibt sich auch, dass Ärztinnen und Ärzte bereits jetzt bei der Prognose, ob eine Patientin oder Patient die Intensiv-Therapie überlebt, nicht an eine Behinderung anknüpfen dürfen."
Gleiche Chancen für alle
Bei der konkreten Ausgestaltung lässt das Urteil aus Karlsruhe dem Gesetzgeber viel Spielraum. "Aus meiner Sicht muss am Ende ein Gesetz stehen. Dazu sehe ich kaum eine Alternative" sagt Corinna Rüffer, Grünen-Sprecherin für Behindertenpolitik. Man stehe im Deutschen Bundestag nun am Anfang eines sehr komplizierten Diskussionsprozesses, so Rüffer im Gespräch mit der DW.
"Wenn man auf der einen Seite eine gesunde Mutter mit vier Kindern hat und auf der anderen Seite eine ältere Person, deren Lebenserwartung begrenzt ist – dann darf das keine Rolle spielen, auch wenn man das emotional nachvollziehen kann." Jeder Mensch müsse unabhängig von seinem Alter oder seiner Behinderung die gleiche Chance auf Zugang zu intensivmedizinischer Behandlung erhalten. Voraussetzung müsse dabei sein, dass es eine Erfolgsaussicht gibt, dass dieser Mensch geheilt werden kann. "Andere Kriterien dürfen meiner Überzeugung nach keine Rolle spielen."
"Knietief drin im Problem"
Angesichts der Karlsruher Entscheidung sei sie "total aus dem Häuschen", sagt Rüffer. Darauf habe man jahrelang hingearbeitet. "Eigentlich sind wir schon viel zu spät dran. Und das muss man dem Gesetzgeber zum Vorwurf machen. Denn wir haben bereits jetzt Entscheidungen, die ich als vorgelagerte Triage-Entscheidungen beschreiben würde, weil Menschen gar nicht mehr auf Intensivstationen gebracht werden. Wir stecken schon knietief in dem Problem drin. "
Der Intensivmediziner Uwe Janssens betont im Gespräch mit der DW, dass eine Vermeidung von Triage-Situationen oberstes Ziel sein müsse. Noch seien sie in Deutschland nicht eingetreten. "Und ich muss mich als Mediziner und Arzt fragen, wie es sein kann, dass der Gesetzgeber das Ende der pandemischen Lage ausgerufen hat." So trügen die Verantwortlichen durch Unterlassen von Verfügungen, Verordnungen und Gesetzen zu einem Überlaufen der Intensivstationen bei. "Wir Ärztinnen und Ärzte, die Pflegekräfte, sind doch nicht diejenigen, die die Rahmenbedingungen schaffen. Die muss die Politik schaffen." So sei etwa der Mangel an Pflegepersonal Ergebnis einer jahrzehntelangen Untätigkeit der Politik.