Bricht die Regierung in Berlin auseinander?
23. Juni 2018Ein Zitat zeigt exemplarisch, wie grundlegend die gegenwärtige Regierungskrise zwischen den beiden konservativen Parteien, der CDU und der CSU, ist. In Wahrheit gehe es gerade gar nicht um das Thema Grenzabweisung, sondern um eine Verschiebung der Position der beiden Unionsparteien "weit nach rechts, gegen Europa". Das sagte Daniel Günther, CDU-Ministerpräsident in einem Bundesland hoch im Norden des Landes, in einem Radio-Interview.
Doch welches Europa meint Günther eigentlich? Es ist nicht mehr das Europa nach der Jahrtausendwende, geprägt von konservativen und sozialdemokratischen Parteien. Stattdessen sitzen in Zentraleuropa, in Nordeuropa, in Österreich und nun auch Italien Rechtspopulisten mit am Regierungstisch oder bilden sogar die Regierung. Eine europäische Lösung in der Flüchtlingsfrage, wie immer sie aussehen mag, wird die neuen Machtverhältnisse wohl berücksichtigen.
Die Verhandlungen auf europäischer Ebene laufen auf vollen Touren. Österreichs Regierungschef hat sich am Donnerstag mit den flüchtlingspolitischen Hardlinern in Zentral- und Osteuropa abgestimmt und dadurch auch ein starkes Verhandlungsmandat bekommen, das klar auf Abschottung setzt. Die Italiener sind bereits eingebunden, sperren sich aber gegen frühzeitige Festlegungen. Am Sonntag findet nun ein informeller halber EU-Gipfel in Brüssel statt, wo ein Zwischenfazit gezogen werden soll - vor dem offiziellen EU-Gipfel am Wochenende danach. Allein die Lage in der EU ist äußerst unüberschaubar. Hinzu kommt der Streit innerhalb der Union und der hat es in sich.
Rechtsruck in Deutschland?
Doch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel könnte auch jetzt wieder überraschen: Beim Atomausstieg, bei der Aussetzung der Wehrpflicht oder der Griechenland-Rettung hat sie sich bereits dem Meinungswind angepasst und 180-Grad-Wendungen vollzogen. Das hat dafür gesorgt, dass ihr nicht wenige in der eigenen Partei, der CDU, eine Entkernung anlasteten. Merkel rückte mit solchen Wendungen und ihrer Position in der Flüchtlingskrise die CDU ein Stück nach links und ließ so Platz im rechten Spektrum. Den hat jetzt die "Alternative für Deutschland" (AfD) eingenommen.
Die CSU in Person von Bundesinnenminister Horst Seehofer, dem Hauptgegner von Merkel, will aber genau das nicht hinnehmen. Rechts von der Union dürfe es keine andere demokratische Partei geben. Das ist so in die Annalen der Parteigeschichte der bayerischen Regionalpartei eingebrannt. Die CSU bildet im Bundestag mit Merkels CDU eine Fraktionsgemeinschaft, eine Besonderheit im deutschen Parteiensystem. Dafür darf die CDU nicht in Bayern bei Wahlen antreten. Die CSU wiederum bleibt in Bayern und weitet sich nicht auf das gesamte Land aus.
Die Sonderrolle der Bayern in Berlin
In dieser Übereinkunft liegt das aktuelle Droh-Potential. Denn die Fraktionsgemeinschaft könnte auseinander brechen, sollte Merkel keine europäische Lösung präsentieren. Seehofer würde dann wohl eigene Maßnahmen umsetzen und sich so über die Kanzlerin hinwegsetzen. Die müsste ihn dann feuern, was wiederum einen Ausstieg der CSU provozieren würde. Schließlich sei er - Seehofer - nicht nur Bundesinnenminister, sondern auch CSU-Parteivorsitzender, sagte er in einem Zeitungsinterview. So eine Entlassung sei eine "weltweite Uraufführung", so Seehofer und fügte die rhetorische Frage an: "Wo sind wir denn?" an. Das alles, während die Kanzlerin auf einer schon lange geplanten Dienstreise im Nahen Osten ist.
Im ausgesprochen konservativen Bundesland Bayern sei die Stimmung bei vielen gekippt, ist immer wieder von CSU-Politikern zu hören. Merkel sei nicht mehr vermittelbar, heißt es. Das macht der CSU Angst. Denn sie steht vor wichtigen Landtagswahlen im Oktober. Dort will die CSU ihre absolute Mehrheit verteidigen, damit sie ohne Koalitionspartner regieren kann. Deshalb gibt der Ministerpräsident in Bayern, Markus Söder, derzeit den scharfen Hund. Es geht auch um seine Macht. "Berlin ist kein Rückenwind für uns, eher ein Mühlstein", legte Söder in München nach und rüstete damit verbal noch einmal auf. Auch der CSU-Statthalter im Bundestag, Alexander Dobrindt, ist nah an seiner Seite. Beide, Söder und er, zeigen sich im Moment wie zwei Raptoren aus "Jurassic World", die unbedingt politisches Blut sehen wollen, also Merkel stürzen wollen.
Merkel hat noch Optionen
In Berlin wird derweil viel spekuliert: Wie ernst meinen es CDU und CSU mit der angedrohten Scheidung? Aus der CDU war schon die Forderung zu hören, man solle sich auf eine Ausdehnung der CDU nach Bayern vorbereiten. Zur Wahrheit gehört auch, dass Merkels Machtbasis in den großen CDU-Landesverbänden weiterhin stark ist. Viele finden ihren Weg weiterhin richtig. Für viele ist die CSU, die gerade im Kopieren von AfD-Positionen ihren Weg sucht, kein guter Partner mehr.
Sollte die Fraktionsgemeinschaft auseinanderbrechen, hätte Merkel andere Machtoptionen, um ihre Kanzlerschaft zu retten: Die Grünen haben schon signalisiert, sie stünden für die Regierungsarbeit bereit. Ein Bündnis mit den Grünen war nach der letzten Bundestagswahl im September sogar die Lieblingsoption von Merkel. Auch die Sozialdemokraten stünden einer Koalition mit den Grünen sicherlich nicht im Weg.
Da sich derzeit von den Hauptakteuren aber niemand in die Karten schauen lässt, sind das alles nur Szenarien. Die Frage wird sein, wer setzt sich durch? Und wo könnte eine Lösung liegen?
Schon jetzt wird darüber gesprochen, wer sich einen noch gar nicht vorhandenen Verhandlungserfolg ans Revers heften kann. So sagte Seehofer, er sei froh, dass er "die Europäische Union wachgeküsst" habe. Innerhalb einer Woche gebe es in Europa plötzlich die Bereitschaft, sich zusammenzusetzen. War genau dies das Ziel seiner Attacke? Die nächsten Tage werden zeigen, was konkret dabei rauskommt.