Brexit! Sie sind raus!
1. Februar 2020Irgendwie ging es am Ende ziemlich sang- und klanglos. Der Freitag war ein ganz normaler Arbeitstag für die Mehrheit der Briten, die Straßen Londons belebt wie immer. Aber die Stimmung war angespannt: Die Mehrheit der Hauptstädter hatte gegen den Brexit gestimmt und viele zeigten ihre Trauer und Frustration. "Das ist ein schlechter Tag für uns", so war immer wieder zu hören. Der Ausstieg aus der EU war nicht mehr aufzuhalten, die Uhr rückte Stunde um Stunde vor, und allen war bewusst, das um 23 Uhr Ortszeit - Mitternacht in Brüssel - die Stunde schlug, um fast 50 Jahre Mitgliedschaft in der Europäischen Union zu beenden.
Der große Brexit-Karneval
Treffpunkt der Brexiteers an diesem Abend ist Parliament Square, der Platz neben dem Unterhaus, wo die Statuen von Gandhi, Churchill und anderen Heroen über das Treiben wachen. Die Stimmung ist ähnlich wie nach dem Fußball, wenn die eigene Mannschaft gewonnen hat. "Three cheers for Brexit", ruft ein Paärchen, von Kopf bis Fuß in Union-Jack-Farben gekleidet. T-Shirt, Umhang, Schuhe - es ist erstaunlich, wo man überall eine britische Fahne drauf drucken kann. Einige ziehen auch schon mit Bierdosen durch die Menge und suchen Streit mit den Kamerateams der internationalen Presse, die hier von den letzten Stunden der EU-Mitgliedschaft des Vereinigten Königreichs berichten und darauf warten, dass das Land offiziell "raus" ist.
Mitchell Feierstein war bei der Wahl im Dezember Kandidat für die Brexit Party in Eat-Reading. Allerdings haben weder er noch irgend jemand von der Partei einen Sitz im Parlament gewonnen. Alles wurde von Premier Boris Johnson und seinen Konservativen abgeräumt. Dennoch glaubt Feierstein, dass die Brexit-Party "die größte politische Erschütterung des letzten Jahrhunderts zustande gebracht hat" - und als Gewinnerin der Geschichte dastehen wird, selbst wenn sie in den Wahlen verloren hat. Bedauert er, dass sie jetzt in der Bedeutungslosigkeit versinkt? Überhaupt nicht, "sie hat ihre Aufgabe erfüllt", meint er.
Und dann erklärt er noch, dass es Großbritannien wirtschaftlich nach dem Brexit besser gehen werde als vorher, denn man müsse nicht mehr die deutschen und italienischen Pleitebanken retten. Er habe ein Buch darüber geschrieben. Interessante Wirtschaftstheorien grassieren sowieso unter den paar Tausend Brexit-Anhängern, die hier versammelt sind. Nur ist das britische Finanzministerium anderer Meinung und warnt, wenn es künftig nur ein einfaches Freihandelsabkommen mit der EU geben würde, würde die Wirtschaft in den nächsten Jahren fünf Prozent an Wachstum verlieren.
Aber die Überzeugten auf dem Platz sind anderer Meinung: "Wir wollen überhaupt kein Abkommen mit der EU", sagt einer der Party-Teilnehmer. "Wir wollen WTO-Regeln", steht auf seinem Schild. Er findet, die Welthandelsorganisation reicht. Hier kann man nicht diskutieren, hier geht es um Glaubensfragen. Und dann beginnt kurz vor dem Brexit die Musik zu spielen, ein Hit der Achtziger, dann eine Siegesrede von Ober-Brexiteer Nigel Farage, der sich hier ein letztes Mal selbst feiert.
Die letzten Europäer
Am Nachmittag hatte sich wirklich nur noch eine kleine Handvoll von Pro-Europäern auf den Parliament Square getraut. Sie wussten, dass er sich langsam in die Partymeile der Brexiteers verwandeln würde. Die sind denn auch angesichts der vereinzelten blauen Europafahnen gleich mit ihren Sprüchen zur Hand: Sätze wie "Ihr Verlierer" oder "Haut doch ab!" gehören zu den zitierbaren Beschimpfungen.
Louise Brown steht mit ein paar Freunden aus Europa auf dem Platz. "Sie haben zu mir gesagt, ich sollte auswandern. Das würde ich ja gern tun, weil die Atmosphäre im Land so vergiftet ist. Aber es geht überhaupt nicht, weil wir ja unsere Bewegungsfreiheit in Europa verlieren." Sie demonstrieren, um dieses Thema in letzter Minute noch in den Brexit-Verhandlungen unterzubringen. Aber das ist ein ziemlich aussichtsloses Unterfangen.
"Es ist für die Hälfte der Bevölkerung kein Tag zum Feiern", sagt Louise, wir müssten doch wenigstens im Binnenmarkt bleiben. Und Sylvia Zamperini, Italienerin die seit 26 Jahren in Großbritannien wohnt, ist wütend: "Alle sagen immer zu mir, ich solle doch nach Hause gehen. Aber ich lebe hier! Das Land geht wirklich den Bach runter."
Unten an der Themse geht ein junger Londoner an den Kameras der Fernsehsender vorbei, die auf den Brexit-Countdown warten. "Sagt ihnen, dass es uns ungeheuer leid tut", ruft er. Ein älterer Passant schüttelt den Kopf und sagt nur: "Wahnsinn, das kommt von der Gehirnwäsche der Zeitungen hier, die Leute glauben den ganzen Schwachsinn." Für ihn sei es ja egal, aber es gehe um die Zukunft seiner Kinder und Enkel. "Für den Brexit haben vor allem Leute mit zu wenig Bildung gestimmt", aber er komme aus Schottland, und nach dem Brexit werde er sich eben "Schotte und Europäer" nennen, auf "Brite" könne er künftig verzichten. Er ist einer von denen, die bei einem neuen Referendum für die Abspaltung der Region vom Königreich stimmen wollen.
Der Brexit-König ermahnt sein Volk
Boris Johnson hat immerhin verhindert, dass es an diesem Tag Freudengeläut und Feuerwerk über der Themse gibt. Zu viel Triumphgeheul wäre vielleicht peinlich gewesen. Aber der Premier setzt sich am Abend des historischen Tages vor den Kamin in der Downing Street und gibt den Versöhner und Staatsmann. Draußen vor der Tür wartet die Presse vor der großen Brexit-Uhr, die auf die Fassade projiziert ist, auf den finalen Countdown. Drinnen aber erklärt Johnson, der Austritt aus der EU sei "kein Ende, sondern ein Anfang". "Dies ist der Moment, wo sich der Vorhang über einem neuen Akt hebt. Es ist ein Augenblick von wirklicher nationaler Erneuerung und Wandel."
Bloß macht der Regierungschef da keine Versprechen für die "glorreiche" Zeit nach dem Brexit, die er im Wahlkampf so begeistert beschworen hat. Stattdessen spricht er von seiner neuen Politik der "Aufwertung" jener Regionen in Großbritannien, die bisher abgehängt sind. Er will nämlich Geld in den unterentwickelten Norden investieren. Was das mit der EU und dem Brexit zu tun hat, bleibt unklar. Denn Brüssel ist eigentlich sehr für die Förderung strukturschwacher Gegenden.
Stattdessen fordert Johnson die Briten auf, wieder vereint zu stehen und sich zu versöhnen. Dabei hat er den "Remainern" - den Europafreunden - aber nichts anzubieten. Denn die Zeitungen berichten bereits, dass er einen ziemlich harten Brexit plant und von der EU nur ein einfaches Freihandelsabkommen will. Da wird es schwierig mit den "sonnigen Hochebenen", die auch zu seinem Brexit-Wortschatz gehören.
Boris Johnson verehrt den Kriegspremier Winston Churchill und sieht sich als sein Nachfolger. Das berühmte Churchill-Zitat nach seinem ersten Sieg über deutsche Truppen 1943, auf das der Brexit-Sieger da am Kamin anspielte, hieß aber: "Dies ist nicht das Ende. Es ist nicht einmal der Anfang vom Ende. Aber es ist vielleicht das Ende vom Anfang." Das passt ziemlich haargenau auch für den Brexit. Denn der Brexit ist kein Zustand, er ist ein Prozess und wie viel politische und wirtschaftliche Zerstörung er am Ende bringen wird, weiß noch niemand, am allerwenigstens die Brexiteers selber am Tag ihres Triumphes.