"Ungleichheit führt zu einer neuen Aristokratie"
25. Januar 2021DW: Bei der Analyse des globalen Kapitalismus unterscheiden Sie zwischen dem System des "liberalen Kapitalismus" und dem des "politischen Kapitalismus". Wo liegen die Hauptunterschiede?
Branko Milanović: Die Vereinigten Staaten und China sind ausgeprägte Beispiele für die beiden Systeme. Es ist dabei wichtig darauf hinzuweisen, dass China auch ein kapitalistisches Land ist, obwohl die Kommunistische Partei an der Macht ist. Wenn man den Prozentsatz der Produktion des Privatsektors in China betrachtet, die Anzahl der Arbeitnehmer, die im Privatsektor oder unabhängig außerhalb des öffentlichen Sektors arbeiten, und wenn wir die Bedeutung privater Investitionen gegenüber dem öffentlichen Sektor sehen, unterstützen alle Indikatoren die Charakterisierung der chinesischen Wirtschaft als kapitalistischen. Etwa 80 Prozent des Sozialprodukts kommt aus der Privatwirtschaft, dort arbeitet mehr als 90 Prozent der Beschäftigten und mehr als 50 Prozent der Investitionen wird von privatwirtschaftlichen Unternehmen getätigt.
Die Unterschiede zwischen den beiden Systemen liegen auf der Ebene des politischen Systems. Der liberale Kapitalismus basiert auf Demokratie, beziehungsweise zunehmend auf einer Art Plutokratie - die Reichen haben großen Einfluss auf politische Entscheidungen. In China gibt es ein Einparteiensystem, in dem der Staat autonom ist und große Möglichkeiten hat, die Kapitalisten zu beeinflussen. Und da gibt es keine Rechtsstaatlichkeit.
Zurzeit wird von China viel geredet: Ist das Land auf dem Weg die USA als wichtigsten Akteur auf der Weltbühne sowohl wirtschaftlich als auch politisch zu ersetzen?
In vielen Punkten hat China einen Vorteil, etwa wenn es um die Eindämmung der Pandemie geht, aber es wird die Vereinigten Staaten noch lange nicht ersetzen. Der Weg dahin ist noch sehr lang. China ist viel ärmer als die USA. Pro Kopf ist das Sozialprodukt in China nur ein Viertel des der Amerikaner. Das Land hat viel mehr Einwohner, also ist das Brutto-Produkt insgesamt höher, aber pro Kopf sind Chinesen wesentlich ärmer.
Darüber hinaus haben die Vereinigten Staaten eine enorme Soft-Power - sie sind immer noch das ideologische und ideengebende Zentrum der Welt. Außerdem sind die USA eine viel größere Militärmacht - während sie etwa 800 Militärbasen auf der ganzen Welt haben, hat China nur zwei.
Zudem haben sie eine riesige Koalition hinter sich, wie etwa NATO und die Länder, die dem Bündnis und der USA nahestehen, von Lateinamerika bis zur Ukraine. China dagegen hat kaum Verbündete, es hat sogar immer mehr Rivalen.
Der Machtunterschied ist also enorm. Aber China entwickelt sich sehr dynamisch und in einigen Bereichen der neuesten Technologien ist es den USA voraus - etwa, wenn es um künstliche Intelligenz, Robotik und grüne Technologie geht. Auch in der Raumfahrttechnik macht das Land große Fortschritte. Wenn dies für die nächsten 20 bis 30 Jahre so bleibt, wird sich China möglicherweise mit den Vereinigten Staaten messen können.
Eines der Grundthemen, mit denen Sie sich befassen, ist die Ungleichheit zwischen bestimmten Schichten - Sie sprechen sogar über Klassen - innerhalb der Gesellschaft. Wie entsteht sie?
Ein besonders wichtiger Faktor, der zu einer Zunahme der Ungleichheit führt, ist die generationsübergreifende Übertragung von Ungleichheit. Es bildet sich eine Art herrschender Klasse, die sich vom Rest der Bevölkerung abhebt. Eine neue Aristokratie entsteht. Dies ist sowohl in China als auch in den USA zu beobachten.
In der USA haben immer mehr sehr reiche Menschen sowohl viel Kapital, als auch ein hohes Arbeitseinkommen. Es entsteht eine herrschende Elite, die einerseits durch das Kapital reich ist, aber auch hart arbeitet, sogar mehr als diejenigen, die weniger bezahlt werden. Auf diese Weise verdoppeln sie ihren Reichtum.
Und diese Menschen heiraten überwiegend diejenigen die auch gut ausgebildet sind und ein hohes Einkommen. Dann wird das an die Kinder weitergegeben. Sie erben nicht nur das Kapital, sondern gehen auch zu besseren Schulen und Universitäten, was ihnen dann den Weg zu besser bezahlten Jobs eröffnet. So reproduziert sich diese Klasse immer weiter.
Ein ähnlicher Prozess findet in China statt. Es ist nur so, dass der Weg dorthin oft durch politische Strukturen führt. Wer eine Position inne hat, holt Verwandte in die Strukturen, oft auch im Bereich der wirtschaftlichen Macht. Dies führt zur Bildung einer Klasse, die nicht zu ersetzen ist, weil sie zunehmend auch die politischen Prozesse kontrolliert. Es kommt zu einer Reproduktion der Klassenstruktur.
Was ist dann die Alternative? Gesellschaftliche Gleichschaltung?
Es gibt Ungleichheit, die das Ergebnis von Arbeit oder Glück oder einem Unterschied in Wissen oder Investitionsbereitschaft ist. Das ist in Ordnung, das muss es auch geben.
Es gibt aber auch Ungleichheiten, die sich aus Monopolen oder unterschiedlichen Ausgangspositionen ergeben. Dies führt zu einer Abschwächung des Wachstums.
Zum Beispiel in Lateinamerika oder Afrika: dort gibt es eine große Ungleichheit. Die Armen können sich nicht bilden, sie haben keine Familie, die sie finanzieren kann. Und selbst wenn die Schulen kostenfrei sind, müssen Kinder ihren Familien helfen, Geld zu verdienen, etwa in der Landwirtschaft. Es ist eine Verschwendung von Humanressourcen.
Dies zeigt sich, wenn diese Menschen in andere Länder auswandern.
Ungleichheit hat drei negative Hauptmerkmale: Die Reichen haben einen größeren Einfluss auf das politische System, es gibt eine Übertragung von Vorteilen auf die Kinder der Reichen und es gibt eine Verschwendung von Humanressourcen, was zu einer Herabsetzung der Wachstumsrate führt.
Wenn der Anstieg der Ungleichheit zur Stärkung der Plutokratie, das heißt der Herrschaft der Reichen, führt, bedeutet dies, dass man sich von demokratischen Prinzipien entfernt?
Ja, auf jeden Fall. Dies zeigt sich insbesondere in den USA durch die Finanzierung politischer Kampagnen. Jeder kann Geld spenden: nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Unternehmen, Banken, Lobbyisten, Investmentfonds. Und wenn man das Geld gibt, normalerweise erwartet man auch etwas dafür. Demokratie wird zur Plutokratie. Dies wird dann in dem Gesetzgebungsprozess sichtbar - durch die gewählte politische Vertreter, zu deren Wahl sie beigetragen haben, beeinflussen Lobbyisten die Gesetze. Dies verkehrt das Prinzip der Demokratie. Politische Macht wird allmählich mit finanzieller Macht gleichgesetzt, und das ist die Definition von Plutokratie. Auf dem Weg dorthin sind die USA schon weit fortgeschritten.
Im System des politischen Kapitalismus sehen Sie eine "endemische Korruption" als großes Problem. Ist sie ein integraler Bestandteil dieses Systems oder eine Art "Deformation"?
Es ist dem System immanent. Um erfolgreich zu funktionieren, muss der politische Kapitalismus seine Legitimität durch wirtschaftlichen Erfolg sichern. Dafür braucht er gute Bürokratie. Dies zeigt sich am Beispiel Chinas, aber auch beispielsweise in Singapur oder Vietnam. Das sind Menschen, die in der Lage sind, Wirtschaftsströme gut zu verwalten.
Andererseits kann es in solchen Systemen keine Rechtsstaatlichkeit geben, weil sie im Widerspruch zur Autonomie des Staates steht - sie schränkt sie ein. Dies bedeutet nicht, dass es keine Gesetze gibt, aber sie werden selektiv angewendet, wie sie jemandem passen.
Wenn es keine Rechtsstaatlichkeit gibt, haben Sie ganz andere Möglichkeiten, gegen Ihre politischen Rivale vorzugehen. Sie können jemanden begünstigen oder einem anderen verhindern - aus politischen oder anderen Gründen. Hier entsteht der Widerspruch zwischen einer funktionierenden Bürokratie einerseits und einer nicht existierenden Rechtsstaatlichkeit andererseits. Das führt zu Korruption - auf diese Weise versucht man ja die Entscheidungen der Verwaltung dahin zu bringen, wo es einem passt. Deshalb ist Korruption in solchen Systemen endemisch.
Was ergibt sich aus dieser Situation des globalen Kapitalismus? Ewige Fortsetzung eines System der Ungleichheit mit starken Tendenzen der Plutokratie? Oder sehen Sie doch die Möglichkeit für eine bessere, gerechtere Lösung, für einen "Kapitalismus mit menschlichem Antlitz"?
Diese Prozesse sind schon weit fortgeschritten, aber Veränderungen sind möglich - Menschen sind immer noch die Akteure in der Geschichte. Zum Beispiel sollte das Finanzkapital de-konzentriert werden. Derzeit befindet sich in den USA 90 Prozent des gesamten Finanzkapitals in den Händen von zehn Prozent der Bevölkerung. Das sollte sich ändern.
Eine Möglichkeit besteht darin, den Mitarbeitern günstigere Anteile an dem Unternehmen zu ermöglichen, in dem sie arbeiten. Eine andere Möglichkeit besteht darin, den Kleinanlegern die Steuervorteile zu gewähren, und nicht umgekehrt, wie es derzeit der Fall ist. Aber es ist natürlich ein langer Prozess, vielleicht für eine ganze Generation. Ziel ist es jedoch, das Kapital letztendlich zu diversifizieren, breiter zu streuen.
Darüber hinaus sollte die Bedeutung der öffentlichen Bildung gestärkt werden, damit die Ungleichheiten zwischen den Generationen nicht ständig reproduziert werden. Zurzeit gibt es in den USA ein de-facto-Monopol der Reichen an guten privaten Universitäten.
Schließlich sollte in den Vereinigten Staaten eine öffentliche Finanzierung politischer Kampagnen eingeführt werden.
Das Gespräch führte Zoran Arbutina.
Branko Milanović ist ein serbisch-US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftler. Er hat in Belgrad studiert und promoviert, arbeitete dann jahrzehntelang als Chefökonom in der Forschungsabteilung der Weltbank und ist seit 2014 als Dozent am City University of New York Graduate Center tätig. Sein Forschungsschwerpunkt ist die soziale Ungleichheit. Anlass für das Interview war sein Buch "Kapitalismus global. Über die Zukunft des Systems, das die Welt beherrscht", erschienen 2020 im Suhrkamp-Verlag.