Der grüne Querkopf
22. August 2016Vielleicht versteht Boris Palmer die Aufregung wirklich nicht, die er manchmal verursacht. Anfang August gab der Tübinger Oberbürgermeister der Stuttgarter Zeitung ein Interview. Drei Sätze darin lösten in Deutschland eine Empörungswelle aus. Sie folgten auf die Frage, wie mit gewaltbereiten Flüchtlingen umzugehen sei.
"Es gibt auch in Syrien Gebiete, die nicht im Krieg sind", sagte Palmer. "Wie erkläre ich denn der Familie eines Opfers, dass der Täter noch im Land ist, obwohl er so aggressiv war? Da ist die Antwort 'in Syrien ist es unsicher' wenig befriedigend."
"Donald Trump der Grünen"
"Palmer will Syrer abschieben", titelten damals die überregionalen Zeitungen. Angesichts der Ausmaße, die der syrische Bürgerkrieg angenommen hat, wäre das auch für Konservative eine provokante Forderung. Palmer aber ist Grüner. Und für Grüne ist so etwas weit jenseits dessen, worüber man auch nur nachdenkt. "Typischer Palmer-Nonsens" kanzelte ihn Simone Peter ab, die Parteivorsitzende der Grünen. Der SPD-Politiker Niels Annen verstieg sich zu dem Vergleich, Palmer sei "der Donald Trump der Grünen". Selbst der Grüne Co-Vorsitzender Cem Özdemir hatte für seinen Parteifreund nur den Rat übrig, doch einmal nach Syrien zu fahren und sich selbst von der Lage vor Ort zu überzeugen. Niemand aus seiner Partei stand Palmer zur Seite. Allein die rechtspopulitische AfD gratulierte ihm zu seiner Aussage. Sollte es ihm um maximale Aufmerksamkeit gegangen sein, hat Boris Palmer einen Volltreffer gelandet.
Herr Palmer, provozieren Sie gerne?
Es gibt Situationen, in denen ich tatsächlich gerne provoziere. Aber dieses Thema ist viel zu sensibel, da ist Provokation gar nicht meine Absicht. Mir geht es um etwas anderes. Ich bin nicht bereit, um Probleme herumzureden - um es im politischen Jargon auszudrücken: mich durchzumerkeln.
Der Boris Palmer, der an diesem Tag im leuchtend blauen Hemd vor den lindgrün vertäfelten Wänden seines Büros sitzt, wirkt nicht wie jemand, der die Reaktionen auf seinen Vorstoß genießt, kein Schalk, nicht einmal ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Palmer spricht ernst. Er wirkt konzentriert, vielleicht ein wenig angespannt. Häufig fixieren seine Augen das Mikrofon, das vor ihm steht.
Ich finde diese Vorwürfe schmerzlich, ich finde sie ungerecht, ich finde sie auch völlig überzogen.
Sind Sie denn noch in der richtigen Partei?
Ich bin durch und durch ein Grüner. Ich habe von meinen Zielen, die mich in die Politik gebracht haben, nichts aufgegeben. Aber ich halte die Aufgabe der Integration für viel größer und viel schwerer und bin deswegen skeptischer als viele Grüne.
In seinen Sätzen ist häufig so ein "Aber". Seit dem Beginn der Flüchtlingskrise vor einem Jahr füllt Palmer die Rolle des grünen Querkopfs aus. In Talkshows warnte er schon früh, dass Merkels Parole "Wir schaffen das" nicht aufginge. Er forderte bessere Grenzkontrollen und eine Begrenzung des Flüchtlingsstroms. Das ist starker Tobak in einer Partei, die die Solidarität mit Flüchtlingen und Einwanderern zu einem ihrer Kernpunkte erklärt hat und die Angela Merkels Grenzöffnung im vergangenen Jahr euphorischer begrüßte als deren eigene Partei.
Altstadtcharme und Photovoltaik
Seit zehn Jahren regiert Palmer in Tübingen. Tübingen ist ein malerischer Ort. Alte Weidenbäume hängen ihre Blätter in den Neckar. Hübsch renovierte mittelalterliche Häuschen stapeln sich den Hang hinauf. Dass die Stadt grün regiert wird, zeigen die Wegweiser in der Altstadt. Neben den historischen Sehenswürdigkeiten führen sie zu Photovoltaik-Anlagen und zur Ausstellung "Energiewende in Tübingen". Hier in Baden-Württemberg sind die Grünen nachhaltiger als sonst irgendwo in bürgerliche Wählerschichten vorgedrungen. Und hier ist die Partei konservativer, bürgerlicher als irgendwo sonst in Deutschland.
Palmer will, darauf legt er wert, die Integration der Neuankömmlinge schaffen. Die Stadt baue Wohnungen für mehr als tausend Flüchtlinge, erzählt er. Man setze auf kleine dezentrale Einheiten, nicht auf schnell hingestapelte Containerdörfer. Die bessere Lösung statt der schnelleren, auch wenn das bedeutet, dass die Flüchtlinge länger in den Massenunterkünften bleiben müssen. Das passt ins Bild, dass Palmer gerne von sich zeichnet. Ein Realist, der Probleme klar benennt und nachhaltige Lösungen sucht, statt Impulsen und Ideologien zu folgen.
Faktisch kommen keine Flüchtlinge mehr zu uns. Die Außengrenzen werden kontrolliert. Wir bekommen endlich die notwendigen finanziellen Mittel. Das alles sind Forderungen, die ich vor einem halben Jahr erhoben habe und für die ich damals heftig kritisiert wurde. Heute haben wir das alles. Faktisch ist die Realität der Verbündete dessen, was ich gesagt habe.
In den Tagen nach dem Syrien-Interview, als die Aufregung um Palmer besonders groß war, erschienen mehrere Porträts des Tübinger Oberbürgermeisters in deutschen Zeitungen. Einige verwiesen auf seine Familiengeschichte. Palmers Vater war ein regional bekannter Rebell, der schon einmal mit einem Eimer Beton anrückte, wenn er fand, dass die Straßen nicht ordentlich gebaut wurden. 18 Monate saß er im Gefängnis - unter anderem wegen Polizistenbeleidigung.
Wenn man meinen Vater als Maßstab heranzieht, bin ich ausgesprochen ruhig, besonnen, gelassen und ausgeglichen. Aber wer selber den Vater im Gefängnis besucht hat wegen Meinungsäußerungen, der nimmt es dann schon mal hin, wenn die Parteivorsitzende was als Nonsens bezeichnet.
Nur – es ist ja nicht Sturheit, die Palmer vorgeworfen wird. Im Gegenteil, der Tübinger Oberbürgermeister gilt manchen in seiner eigenen Partei inzwischen als hemmungsloser Populist. Als jemand, der Ressentiments bedient und Politik mit Stimmungen macht. Die Forderung nach mehr Härte gegen kriminelle Ausländer – aus grüner Sicht ist das ein Klassiker des Rechtspopulismus. Palmer selbst sagt, nichts deute darauf hin, dass die Kriminalitätsraten unter Flüchtlingen höher sind als unter Einheimischen. Trotzdem ist es nicht das erste Mal, dass er mit den Thema Schlagzeilen macht.
Vor fünf Jahren hätte ich solche Argumente strikt zurückgewiesen. Aber heute haben wir eine Million Flüchtlinge im Land. Das sind zwanzigmal mehr als vor fünf Jahren. Damit ist das Risiko, Gewaltopfer eines Flüchtlings zu werden, zwanzigmal höher. Und das nehmen die Menschen wahr. Es steht jetzt jede Woche in der Zeitung, dass irgendwo in der näheren Nachbarschaft ein Flüchtling gewalttätig geworden ist.
Sie sagen also, dass durch die Einwanderung die Fallzahlen nicht stärker steigen, als sie es langfristig durch eine höhere Geburtenrate täten?
So ist es.
Warum dann diese Unterscheidung zwischen kriminellen Flüchtlingen und anderen Kriminellen?
Als Gewaltopfer werden sie sich doch die Frage stellen, warum jemand, der Schutz vor Gewalt sucht oder vorgibt zu suchen, in unserem Land Gewalt ausüben kann ohne dass ich vor dieser Gewalt geschützt werde.
Auch in der Syrienfrage rudert er ein bisschen zurück und schiebt dann ein großes "Aber" nach. Er habe keinesfalls "gefordert", Syrer abzuschieben, sagt Palmer. Er weise lediglich darauf hin, dass die Genfer Flüchtlingskonvention Abschiebungen von Kriminellen auch in Krisengebiete erlaube. Und er erwarte, dass das im Einzelfall sorgfältig geprüft werde.
Herr Palmer, bereuen Sie Ihre Äußerungen?
Ja, ich finde, die Reaktionen zeigen, dass ich eine Formulierung gewählt habe, die offensichtlich viele Interpretationsspielräume zulässt. Es wurde so weit überinterpretiert, dass da jetzt bei vielen sicher hängenbleibt, dass da jemand zumindest bereit ist, den Tod von Menschen in Kauf zu nehmen. Aber nein, ich sehe keinen Grund, von dem was ich inhaltlich gesagt habe, abzurücken.
Wieder so ein Satz mit einem großen "Aber". Kurz darauf erscheint in der konservativen Tageszeitung "Die Welt" ein Gastbeitrag, den er in eigener Sache geschrieben hat. Der Titel: "Ich bleibe bei meiner Meinung."