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Björn Engholm: "Wir haben die Ostdeutschen nicht ernst genug genommen"

30. August 2010

Auch Opposition und Bundesländer waren an den Verhandlungen über den Einigungsvertrag beteiligt. Björn Engholm, der damalige Ministerpräsident Schleswig-Holsteins, glaubt heute, dass eine Reihe von Fehler gemacht wurde.

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Portrait von Björn Engholm (SPD), ehemaliger Ministerpräsident von Schleswig-Holstein (1988-1993) (Foto:dpa)
Björn Engholm, Ministerpräsident von Schleswig-Holstein (1988-1993)Bild: picture-alliance/dpa

Deutsche Welle: War die damalige Opposition in die Verhandlungen über den deutsch-deutschen Einigungs-Vertrag in irgendeiner Weise eingebunden?

Björn Engholm: Es hat eine ganze Reihe recht intensiver Abstimmungen zwischen Mehrheit und Opposition gegeben, sodass man sagen kann: Zumindest der Informationsstand ist immer ausreichend gewesen.

Hatte die Opposition Möglichkeiten auch noch eigene Ideen in den Vertrag einzubringen?

Sie hatte diese Möglichkeit. Aber die Bundesregierung mit dieser riesigen Arbeitsmaschinerie, die sie besitzt, ist natürlich immer im Vorteil. Mitunter ist es gelungen, an einigen Stellen Korrekturen anzubringen. In einigen großen Fragen hat es erst nach geraumer Zeit Übereinstimmungen gegeben – etwa bei der Frage der Wirtschafts- und Währungsunion. Da hat es bei uns eine ganze Reihe von abweichenden Meinungen gegeben.

Wie ist die Länderkammer, der Bundesrat, eingebunden gewesen? Der Vertrag hat ja auch die Interessen der Bundesländer berührt.

Insgesamt muss man sagen, dass der Bundesrat in großer Einstimmigkeit den Einigungsvertrag, die Wirtschafts- und Währungsunion und das Ländereinführungsgesetz getragen hat. Die großen Streitfragen, die politischen Streitfragen, die es ja gegeben hat in jener Zeit, die sind zwischen CDU und SPD ausgetragen worden. Im Bundesrat hat man darauf geachtet, die föderale Grundordnung konsequent durchzuführen über die Wiedervereinigung hinaus.

Würden Sie im Rückblick – 20 Jahre später – sagen, dass der Vertrag erfolgreich war und richtig?

Der schnelle Schritt zur Einheit war unvermeidbar, insoweit war er richtig. Man hätte das nicht, wie es etwa Lafontaine gewollt hat, herausschieben können. Wir haben allerdings, wie ich glaube, eine Reihe von Fehlern bei der Einheit gemacht, die auch mit unserer Ideologie im Westen zu tun hatten. Wir haben gedacht, wenn man die Leute nur machen lässt, also das alte liberale "Laissez-faire"-Prinzip, dann wird sich die Wirtschaft in wenigen Jahren drüben einpendeln und es wird – wie Bundeskanzler Kohl gesagt hat – "blühende Landschaften" geben. Das war ein verheerender Irrtum. Wir haben durch die schnelle Einführung der gemeinsamem Währung und der Währungsrelation zwischen Ost und West die Ostwirtschaft in immense Bedrängnis gebracht. Ich schätze, wir haben in jener Zeit wohl 80, 85 oder mehr Prozent der wertschöpfenden Industriearbeitplätze verloren und das haben wir bisher noch nicht aufgeholt.

Hat es am Verständnis für die Ostdeutschen auf westdeutscher Seite gemangelt?

Wir haben im Westen aufgrund unser langen Westorientierung nicht begriffen, was in Köpfen und Herzen der Ostdeutschen los war. Wir haben keinen Zugang gehabt zur mentalen Grundsituation der Ostdeutschen und ich glaube, wir haben deren Bedürfnisse, deren Wünsche, deren Hoffnungen, deren Sorgen und Nöte nicht wirklich ernst genommen. Also wir haben sozusagen unserer Idee über den Osten gestülpt, ohne die Sonderheiten, die es im Osten gab, aufzunehmen. Und darunter, glaube ich, leiden wir heute noch ein bisschen.

Björn Engholm war von 1988 bis 1993 schleswig-holsteinischer Ministerpräsident und von 1991 bis 1993 SPD-Vorsitzender.

Interview: Matthias von Hellfeld

Redaktion: Dеnnis Stutе