Streit um neues Brexit-Referendum
12. Januar 2018Der Ober-Brexiteer Nigel Farage hatte Großbritannien und halb Europa mit seiner Forderung nach einem weiteren Brexit-Referendum elektrisiert. Farage hatte gesagt, eine weitere Abstimmung würde endgültig diejenigen zum Schweigen bringen, die über den Ausstieg aus der EU "jammern und winseln". Seine Gegner in Großbritannien und im Rest der EU jubelten: Wenn die Briten ein weiteres Mal abstimmen könnten, würde das Ergebnis ein ganz anderes sein, glauben sie: Der Brexit könne ausfallen.
Doch Farage ist schon wieder zurückgerudert. In der Online-Ausgabe des "Daily Telegraph" schreibt er inzwischen: "Um es klar zu sagen, ich will kein zweites Referendum." Er fürchte aber, fuhr er fort, "dass dem Land ein zweites Referendum vom Parlament aufgezwungen werden wird". Er glaubt nämlich, das Abkommen mit der EU werde für Großbritannien am Ende so "unattraktiv" sein, dass es das Unterhaus, das darüber das letzte Wort hat, ablehnen und dann eine neue Abstimmung durchsetzen werde.
Farage hatte aber nie eindeutig eine zweite Volksabstimmung gefordert, sondern sich sehr vorsichtig ausgedrückt. Da Pro-Europäer wie der ehemalige Premierminister Tony Blair niemals aufgeben würden, für den Verbleib in der EU zu kämpfen, "könnte ich möglicherweise auf den Gedanken kommen, dass wir ein zweites Referendum haben sollten", so Farage vor wenigen Tagen im britischen Fernsehen. Die Frage werde sich dann "für eine Generation erledigt haben", denn die Unterstützung für den Ausstieg werde bei einer neuen Abstimmung "viel größer sein als beim ersten Mal", sagte er voraus. 2016 waren 48 Prozent gegen und 52 Prozent für den Ausstieg.
Für wen spricht Farage?
Doch genau das bezweifeln viele. Die Liberaldemokraten und ein Teil der Labour-Partei sowie der Konservativen glauben im Gegenteil, die Bevölkerung habe damals die Folgen eines Brexit nicht voll ermessen können, viele bereuten heute ihr Stimmverhalten. Deshalb bekam Farage für seinen Vorstoß unerwartetes Lob. "Vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben sagt Nigel Farage etwas Richtiges", meinte sarkastisch der Labour-Abgeordnete und Brexit-Gegner Chuka Umunna. Und Tom Brake von den Liberaldemokraten prognostiziert: "Farage sollte sich nicht so sicher sein, dass er gewinnt. Die Leute sind sich heute der Kosten eines Brexit und der falschen Behauptungen der Brexit-Befürworter viel mehr bewusst."
Farages Äußerung wird unterdessen dadurch relativiert, dass ihm die frühere Autorität des Parteichefs fehlt. Als Vorsitzender der EU-skeptischen UKIP hatte er jahrelang für den Brexit gekämpft. Heute ist er aber nur noch einfacher Abgeordneter im Europaparlament. Den Parteivorsitz hat er abgegeben, und im britischen Unterhaus sitzt seit der Wahl von 2017 gar kein UKIP-Abgeordneter mehr. Der heutige UKIP-Parteichef Henry Bolton scheint auch nicht erfreut über Farages Gedankenspiele zu sein: "Wenn man ein zweites Referendum abhielte, würde man damit die zentrale Bedeutung der größten demokratischen Übung, die dieses Land je erlebt hat, infrage stellen."
Doch es wird wohl ohnehin nicht zu einer weiteren Abstimmung kommen. Premierministerin Theresa May hat sie mehrfach ausgeschlossen. Ihr Sprecher bestätigte das jetzt erst wieder. Mays Hauptargument ist dasselbe, das auch andere Konservative ebenso wie Politiker der Labour-Opposition vorbringen: Es wäre falsch und sogar gefährlich für die Demokratie, würde man den erklärten Willen des Volkes missachten, wenn er einem nicht passt.
Unklares Stimmungsbild
Die jüngsten Meinungsumfragen ergeben ein gemischtes Bild. Zwar wollten im Dezember nur noch 41 Prozent die EU verlassen, während 51 Prozent in ihr verbleiben wollten. Doch nach dem beauftragten Umfrageinstitut BMG ergab sich diese Verschiebung weitgehend unter denjenigen, die 2016 gar nicht gestimmt hatten, während neun von zehn derjenigen, die sich 2016 an der Abstimmung beteiligt hatten, an ihrer Meinung festhielten. Ein grundsätzlich neues Bild ergibt sich also nicht.
Was Farage und andere vor allem befürchten, ist eine Aufweichung des Brexit: dass sich inmitten allgemeiner Verunsicherung und Desillusionierung über den Ablöseprozess von der EU diejenigen Politiker durchsetzen, die die Verbindungen Großbritanniens zum Kontinent sehr eng halten wollen und zum Beispiel bereit sind, die Einwanderung aus dem EU-Ausland weiter zuzulassen. Auch der Geschäftsmann und frühere UKIP-Finanzier Arron Banks hat sich aus diesem Grund für eine neue Abstimmung ausgeprochen: "Wenn wir jetzt nicht handeln, werden wir in einen falschen Brexit schlafwandeln", May habe die Nation "verraten". Alle, die für einen "echten Brexit" seien, sollten in einer neuen Abstimmung die Gelegenheit haben, ihre Meinung "von den Dächern herunterzuschreien".
Doch der politische Widerstand gegen eine neue Abstimmung ist in beiden großen Unterhausparteien sehr groß. Dazu kommt das unklare Meinungsbild in der Bevölkerung: Gut möglich, dass ein neues Votum sehr ähnlich ausfiele wie das erste. Deshalb dürften die Pro-Europäer auf genau die Strategie setzen, die Farage und seine Anhänger befürchten: dass sie den Brexit zwar nicht verhindern, aber aufweichen werden.