Berlin: Arm, sexy, für die Tonne
29. Januar 2017An den Kühlschränken klebt ein Siegel. Damit können die Betreiber der InitiativeFoodsharing keine Lebensmittel mehr in öffentlichen Kühlschränken Berlins einlagern. "Andere Betreiber hatten ihre Geräte schon vorher freiwillig entfernt", berichtet Foodsharing-Initiator Frank Bowinkelmann, "weil sie eingeschüchtert wurden von den hohen Strafandrohungen der Lebensmittelaufsicht." In etwa 30 Kühlschränken und Regalen des Hauptstadtgebietes hatten registrierte Konsumenten und ehrenamtliche 'Fairteiler' Waren für den allgemeinen Verbrauch und für Jedermann abgelegt, Essen, das sonst im Müll gelandet wäre.
In Berlin gibt es viel Überschuss. Es gibt großen Bedarf zu teilen und viele Bedürftige. Deshalb hatte der frühere Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) seine Stadt als "arm, aber sexy" charakterisiert.
Und eben dort gibt es das Bezirksamt Pankow, Abteilung Verbraucherschutz, Kultur, Umwelt und Bürgerservice Ordnungsamt. Der zuständigen Lebensmittelaufsicht der Behörde sind die Kühlschränke, Fairteiler genannt, seit Jahren ein Dorn im Auge. Sie versiegelte die Geräte und forderte die Hausverwaltung auf, diese vom offen zugänglichen Gelände zu entfernen.
"Die Politik hat sich Nachhaltigkeit und die Förderung bürgerschaftlichen Engagements auf die Fahnen geschrieben. Wir von Foodsharing leben diese Prinzipien", sagt Frank Bowinkelmann. "Als Dank legt man uns Steine in den Weg." Der Vorsitzende des Vereins Foodsharing spricht selbst bei allem Unmut ruhig und verweist auf die Erfolge: "Obwohl es uns erst seit Dezember 2012 gibt, haben wir schon 460.000 Mal Lebensmittel abgeholt und etwa zehn Millionen Kilo Essen verteilt." Auch in der Bundeshauptstadt.
Besonders strenge Auflagen in Berlin
Vor knapp einem Jahr hatten die Berliner Behörden die Auflagen allerdings verschärft. Seither können die Betreiber als Lebensmittelunternehmer eingestuft werden, obwohl die Ware nur gespendet wird und kein Geld fließt. "In allen anderen Städten werden die Bereiche als Übergabeort von 'privat zu privat' betrachtet und teilweise bis gar nicht von der Lebensmittelaufsicht kontrolliert, erklärt Bowinkelmann. Das Prinzip funktioniere reibungslos. Beschwerden über verdorbene Ware seien ihm nicht bekannt. "In Berlin gibt es die Auflage, dass der Fairteiler rund um die Uhr bewacht werden muss. Einer muss registrieren, was, wann, von wem herein gegeben und wieder herausgenommen wird. Und er muss die Lebensmittel vorher prüfen." Da die Betreiber Ehrenamtliche seien, könnten diese den Vorgaben nicht Folge leisten.
Foodsharing-Vorsitzender Bowinkelmann kann diese Härte auch nicht nachvollziehen: "Seit Bestehen des Foodsharing-Netzwerkes wurden bundesweit viele tausend Tonnen Lebensmittel gerettet, geteilt und verzehrt. Dabei ist es unseres Wissens noch nie zu einer Gesundheitsgefährdung gekommen." Außerdem seien die Hygieneregeln sogar gemeinsam mit Vertretern staatlicher Lebensmittelkontrollbehörden entwickelt worden und lägen im Interesse aller Foodsharer, die die Fairteiler nutzen, fügt der Vereinsvorsitzende hinzu.
Das Gefahrenpotential, so Bowinkelmann, sei gering: "Gehacktes und Produkte, die rohe Eier enthalten, und andere schnell verderbliche Lebensmittel, sind von der kurzfristigen Zwischenlagerung in den Kühlschränken ausgeschlossen. Reinigung und Kontrolle der Fairteiler erfolgen täglich.
Frisches Brot, Salat mit welken Außenblättern, Milchtüten, in Folie eingeschweißte Äpfel mit einer einzigen Druckstelle und abgepacktes Essen mit Haltbarkeitsdatum konnten so vor Mülltonnen und Containern gerettet werden.
Gegen die gigantische Lebensmittelverschwendung
"313 Kilogramm Lebensmittel werden in jeder Sekunde entsorgt", sagt Foodsharing-Aktivistin Nicole Klaski. Die Verbraucherzentrale spricht von elf Millionen Tonnen Lebensmitteln - im Wert von zirka 25 Milliarden Euro, die jedes Jahr im Müll landen. Um diese Menge zu transportieren, seien 275.000 Sattelschlepper notwendig. "Das ergibt eine Strecke von Berlin nach Lissabon", so die Verbraucherschützer.
Verursacher sind Hersteller, Landwirtschaft, Handel und Verbraucher. Also alle. Die Politik will die Lebensmittelverschwendung drastisch reduzieren.
Foodsharing setzt das Vorhaben praktisch um und wurde für die visionären Ideen immer wieder mit Umwelt- und Nachhaltigkeitspreisen ausgezeichnet: von der Bundesregierung mit dem "Zu gut für die Tonne-Preis" sowie dem "Smart Hero Award". Das Prinzip sieht vor, Lebensmittel in Regalen und Kühlschränken, den Fairteilern, einzulagern. Dort haben alle Zugriff. Bundesweit beteiligen sich mehr als 3100 Betriebe an dem Projekt Essensrettung.
"Die Unternehmen haben ein ungutes Gefühl, Waren wegzuwerfen. Und sie sparen dadurch ungeheure Müllkosten ein, denn die Lebensmittel sind ja noch genießbar, aber nicht mehr verkaufbar", erklärt Bowinkelmann die Motive von Bäckereien, Gemüsehändlern, großen Supermarktketten und Kantinen.
Nebenbei wird die Verschwendung in Privathaushalten durch deren Teilnahme reduziert und Bedürftige nicht stigmatisiert, wenn sie sich anonym bedienen.
Japan, Indien, Saudi-Arabien, Wien - nicht aber Berlin
Das Konzept ist sehr erfolgreich: Im deutschsprachigen Raum gibt es mindestens 350 Foodsharing-Stationen. Und weltweit registrieren sich Nachahmer. Auch in Japan, Indien, Saudi-Arabien und Österreich gibt es Fairteiler. "Die Stadt Wien schätzt diese Idee besonders", freut sich Frank Bowinkelmann. "Fairteiler wurden als 'Orte des Respekts' ausgezeichnet. Und die Stadtverwaltung hat entschieden, die Foodsharing-Regale zu bezahlen und an öffentlichen Standorten aufzustellen.
Solch eine Maßnahme wünschen sich Frank Bowinkelmann und seine Mitstreiter auch von den Berliner Behörden. Denn andernfalls befürchtet das Foodsharing-Netzwerk, dass Lebensmittel an den nun etablierten Orten trotzdem weiter verteilt werden könnten, unkontrolliert und unter hygienisch zweifelhaften Bedingungen. "Wie kann das im Interesse der Lebensmittelaufsicht sein?", fragt Frank Bowinkelmann." Auch der Vorschlag der Foodsharer, die Kühlschränke mit einem Zahlencode zu versehen, den nur registrierte Benutzer kennen, stieß beim zuständigen Lebensmittelkontrolleur auf Ablehnung.
40.000 Unterschriften haben die Essensretter gesammelt, die sie als Protest-Petition der Senatsverwaltung für Verbraucherschutz vorgelegt haben. Man sei offen für Gespräche, ließ die Behörde verlautbaren.