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Bayreuther Festspiele: Mit AR-Brille in die Zukunft

26. Juli 2023

Der neue Bayreuther "Parsifal" ist ein Versuch, reales Bühnengeschehen mit Augmented Reality zu verbinden. Die Musik überlebt das Experiment.

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Bühnenbild, im Zentrum zwei Figuren von Kundry und Parsifal
Am Ende in trauter Einigkeit: Parsifal und KundryBild: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Hat etwa schon wieder jemand behauptet, das bedeutendste deutsche Festival, die Richard Wagner Festspiele in Bayreuth, seien auch das konservativste? Erneuerung gehört fest in den Bayreuther Traditionskanon!

Vom Riesenwurm zur AR-Brille

Bereits bei der Gründung der Festspiele durch den Komponisten Richard Wagner und dem ersten Opern-Durchlauf 1876 verschrieb sich Bayreuth dem Experiment, dem künstlerischem wie dem technischem. So wurde 1876 für die "Ring"-Premiere am Grünen Hügel ein "Riesenwurm" – wohl eine Drachenattrappe der neuen Generation – in England bestellt. Der Körper traf auch pünktlich ein, der Kopf aber blieb unterwegs auf der Strecke.

Sänger (Gurnemanz) in farbenfrohem Kostüm, Bühnenbild im Hintergrund
Die große Titan-Stehle im ....: Regisseur Jay Scheib spielt auf die Ausbeutung natürlicher Ressourcen wie Kohle oder Eisenerz anBild: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

"Nun ist ganz Bayreuth in heller Aufregung", berichtete der Komponist Pjotr Tschaikowski, der als Korrespondent der "Petersburger Nachrichten" zum Superevent in der fränkischen Provinz unterwegs war. "Alle reden nur darüber, ob auch der Kopf des Untieres pünktlich zur Premiere da ist."  Der Kopf kam wohl an, es lief letztendlich alles nach Plan. Die Bühnenpräsenz des Wurms hat allerdings keine nachhaltigen Spuren in der Wagnerrezeption hinterlassen.

Der "Riesenwurm des Jahres 2023" trägt den Namen"Augmented Reality", was so viel wie "erweiterte Realität" bedeutet. Es handelt sich um eine Art im wahrsten Sinne des Wortes schwerwiegende 3-D-Brille, die man sich auf die Nase setzt und damit zusätzlich zum realen Geschehen digitale Bilder sieht. Sie sind der Fantasie des amerikanischen Regisseurs Jay Scheib entsprungen.

Im digitalen Wunderland

Ästhetisch fühlt man sich dabei an die Computer-Spiele der ersten Generation erinnert. Inhaltlich ist das digitale Bildergewitter erst nach der fleißigen Lektüre des Programmheftes oder einem Gespräch mit dem Regisseur zu entschlüsseln.

Avatare mit Augmented Reality auf der Bühne
Digitale Welten mit übergroßen Körperorganen wie das Herz zielten auf die Emotionen der Zuschauer Bild: AR-Design Joshua Higgason (2023)

Während vorbeiflatternde Schwäne, die vom ungestümen jungen Tor Parsifal abgeschossen werden, oder zahlreiche fantasievolle Blumen in den Blumenmädchen-Szenen einigermaßen selbsterklärend sind, so entstammen weitere Bilder (Dornengeflechte, Totenköpfe, sich in den Schwanz beißende Schlangen und einiges mehr) Wagners Parsifal-Bilderwelt, die schon für sich eine wilde Mischung aus christlichen, heidnischen, buddhistischen und anderen Symbolen war.

In seinem gewaltigen Abschiedswerk "Parsifal" sucht Wagner Wege zum ewigen Leben über den Tod hinaus und zur Erlösung - vor allem durch die Kraft der Liebe.

Neues schaffen versus Neues anschaffen?

Man kann also diese visuelle Erweiterung, soweit der Nasenrücken nicht von der gewichtigen Brille schmerzt, als ein zusätzliches Angebot zu Wagners Gesamtkunstwerk betrachten und die Experimentierfreude des Festivals und des Regieteams huldigen, wäre da nicht ein Riesenwurm an der Sache: AR-Brillen konnten nicht für alle angeschafft werden, sondern nur für 330 der 1940 Zuschauer des Festspielhauses, "Wagner-Schuppen" liebevoll genannt. Die ganze Experimentierschose wäre sonst zu teuer gewesen, so die Geschäftsleitung des Festivals, und auch sonst sei ja nicht jeder Wagnerianer großer Fan von technischen Novitäten.

US-Regisseur Jay Scheib, Mann, Bäume im Hintergrund
Mit eigener Lesebrille: Regisseur Jay ScheibBild: Daniel Vogl/dpa/picture alliance

Wer nicht zu den "wenigen Glücklichen" gehörte und höchstens mit eigener Brille auf die Bühne schaute, bekam herzlich wenig zu sehen: Jay Scheib arbeitet mit reduzierten, statischen Bildern (Bühne: Mimi Lien), die zum Teil an die Ur-Ära von Bayreuth erinnern. Die farbenfrohen Kostüme (Meentje Nielsen) lockern das Ganze zwar auf, konnten aber die fehlende dramaturgische Spannung auch nicht ersetzen. 

Szene, Mann (Amfortas) im Zentrum
Fulminantes Debüt: Derek Welton als leidender AmfortasBild: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele

Man erinnert sich an den alten Richard Wagner, der an einigen Regieexperimenten seiner Zeit verzweifelt, sich ein komplett "unsichtbares Theater" wünschte, wohl eine Art "Kino im Kopf", als Pendant zum "unsichtbaren Orchester". Das spielt in dem legendären Bayreuther Orchestergraben, dem "mystischen Abgrund", den Richard Wagner geschaffen hat und der sich für die Zuschauer nicht sichtbar unter der Bühne erstreckt. Andererseits: Ist die Geschichte des Fortschritts, auch im Theater, nicht immer die des Versuchs des Scheiterns und eines erneuten Versuchs gewesen? Noch vor wenigen Jahren hat man sich skeptisch über den Einsatz von Videos im Bühnengeschehen geäußert – heute sind sie ein unverzichtbares Element der modernen Theatersprache.

Es gilt die Magie der Musik

Aber es gibt eine gute Nachricht: 141 Jahre nach der Uraufführung hat die Musik Wagners nichts an ihrer berauschenden Wirkung eingebüßt. Gerade die jungen Wagnerianer, die das DW-Team - wenn auch nicht zahlreich, aber dennoch präsent auf dem Grünen Hügel - zu Bayreuth befragte, schwärmten von der Intensität der Gefühle, die die Musik Wagners weiterhin transportiere.

Erst recht in der großartigen Darbietung des spanischen Maestro Pablo Heras-Casado, der sein Bayreuth-Debüt am Dirigentenpult triumphal absolvierte. Flankiert wurde er von dem wohl weltbesten Wagner-Ensemble: dem charismatischen Andreas Schager als Einspringer in der Titelrolle, des Wagnersänger-Eichmaßes Georg Zeppenfeld als Gurnemanz und Elīna Garanča als hollywoodtaugliche Verführerin Kundry, ein Zauberweib mit Zauberstimme.

Bei so viel Grundkapital kann man sich voller Zuversicht weiteren Experimenten zuwenden.