Wissen für Blinde
16. Juni 2014Bangladesch, eines der ärmsten Länder der Welt, macht sich stark für seine Bildung. Eine Initiative, Schulkinder und Studenten mit kostenlosen Schulbüchern auszustatten, bekam bereits internationale Aufmerksamkeit. So erhalten die meisten Kinder mittlerweile ihre Schulbücher auch pünktlich zum Schuljahresbeginn - was früher nicht selbstverständlich war. Für sehbehinderte Schüler sieht die Situation allerdings ganz anders aus.
Die meisten blinden Schüler und Studenten kriegen ihre Bücher, wenn sie Glück haben, vielleicht in der zweiten Hälfte des Schuljahres. Der Grund ist simpel: Es gibt viel zu wenig Bücher in Blindenschrift. Die einzige staatliche Druckerei des Landes kann die große Nachfrage nicht erfüllen. Hinzu kommt, dass Bücher in Braille-Schrift sehr teuer in der Produktion sind. Ein ganzes Schulbuch-Set in Braille kann schon mal 250 US-Dollar und mehr kosten - und das können sich die meisten der Betroffenen niemals leisten.
Die Lösung: Crowd-Sourcing
Der bengalische Internetaktivist Ragib Hasan lebt in den USA. Durch einen Artikel in einer Online-Zeitung wurde er auf die desolate Situation sehbehinderter Schulkinder in seiner Heimat aufmerksam. Als Computerexperte wollte Ragib herausfinden, wie man die Informationstechnik dazu nutzen kann, diese Kinder zu unterstützen. Er stellte fest, dass das größte Problem die Digitalisierung der Braille-Bücher war.
Eine große Herausforderung – schließlich gibt es mehr als 100 verschiedene Textbücher für alle Schuljahre. Ragib beschloss, ein noch junges Werkzeug im Online-Aktivismus einzusetzen: Crowdsourcing. In Bangladesch gehört Facebook zu den am meisten genutzten sozialen Medien – und so postete er dort seinen Spendenaufruf. Innerhalb weniger Stunden hatten sich gut 1000 Leute angemeldet, um als Freiwillige für das Projekt zu arbeiten. Mitterweile hat die Facebook-Gruppe "Bangla Braille" mehr als 3.000 Mitglieder. Ragib Hagan koordiniert alles.
Digitalisierung per Social Media
Bangla Braille teilt sich in zwei Unterprojekte auf: Das eine kümmert sich um die Digitalisierung der Braille-Bücher, wobei die Mitarbeiter einen Unicode benutzen, der es möglich macht, dass die Bücher später auf allen Braille-Druckern ausgedruckt werden können.
Die andere Gruppe produziert Hörbücher – für diejenigen, die nicht mit der Braille-Schrift umgehen können. Die Leute von Bangla Braille sind schnell: "Ende 2013 haben wir bereits ein Viertel aller Bücher komplett aufgenommen", sagt Ragib. "Mehr als die Hälfte sind jetzt kurz vor der Fertigstellung."
Die Produktion der Hörbücher ist denkbar einfach: Die Helfer lesen die Bücher Seite für Seite vor und zeichnen das Ganze mit ihren Smartphones oder Computern auf. Später werden die einzelnen Takes zusammengefasst und auf der Bangla Braille Webseite hochgeladen.
Unterstützung für tausende Studenten
In Bangladesch leben ungefähr eine Million Menschen mit Sehbehinderung, darunter sind 50.000 Kinder. Es gibt einige wenige staatliche Schulen für blinde Kinder, weitere Schulen werden von NGOs betrieben. Bangla Braille hat seine digitalisierten Inhalte für alle im Web kostenlos zugänglich gemacht, so dass viele Organisationen auf die digitalisierten Bücher und Hörbücher zugreifen können.
"Mein Sohn ist in der zehnten Klasse und hat sein Augenlicht vor kurzem verloren. Er kennt die Braille-Schrift noch nicht und ist abhängig vom Hören", erzählt ein Vater. So habe er angeregt, auch für die höheren Schulklassen Hörbucher anzufertigen, damit sein blindes Kind weiter zur Schule gehen kann. Wie er sind auch andere Eltern ständig auf der Suche nach Online-Content für sehbehinderte Kinder. Mittlerweile wissen sehr viele Eltern, dass sie Hilfe bei Bangla Braille finden können.
"Die Eltern bedanken sich bei uns für unsere Anstrengungen, andere schicken uns auch herzzerreißende Geschichten über das Leid ihrer Kinder", erzählt Ishtiaq Rouf von Bangla Braille. "Manche wünschen sich Audioversionen von bestimmten Büchern. Und unzählige weitere Freiwillige haben uns ihre Hilfe angeboten."
Zwei Bobs-Awards auf einmal
Das Bangla Braille-Projekt hat in diesem Jahr gleich zwei Bobs-Awards bekommen: Den Jury-Preis und den Publikumspreis in der Kategorie "Best Innovation". Jurymitglied Dr. Shahidul Alam ist sicher, dass dieses Projekt Millionen Menschen Hoffnung geben kann: "In einem Land, wo Bildung schon für Sehende ein Luxus ist, sind die Möglichkeiten für Sehbehinderte äußerst begrenzt. Aberglaube, Vorurteile und ihre Lebenssituation sind Hindernisse, die für sie sehr schwer zu überwinden sind - durch dieses innovative Projekt haben sie bessere Chancen."
Der Computerexperte Ragib Hasan erhofft sich durch den DW-Award eine breitere Aufmerksamkeit. Er glaubt, dass mehr Menschen - bis hin zur Regierung in Bangladesch – ein Bewusstsein für die Probleme entwickeln, die sehbehinderte Schüler und Studenten in Bangladesch haben. "Soziale Medien können effektiv genutzt werden, um Menschen für eine gute Sache zu gewinnen - und Bangla Braille tut genau dies. Das ist etwas ganz Neues", freut sich Ragib Hasan.