Baltikum als Streitthema beim EU-Russland-Gipfel
9. Mai 2005
Russland stuft die Entwicklung der Beziehungen zur Europäischen Union als zufriedenstellend ein. Kritik übte der EU-Beauftragte der russischen Führung, Sergej Jastrschembski, allerdings an den baltischen Staaten. Einige neue EU-Mitglieder versuchten, ihre "Phobien und Vorurteile" gegen Russland auf das russisch-europäische Verhältnis insgesamt zu übertragen, sagte er. Auch Russlands Präsident Wladimir Putin will die Eingliederung Estlands, Lettlands und Litauens in die Sowjetunion nicht als Besetzung gewertet wissen.
EU und Baltikum sind einer - anderen - Meinung
Die drei Präsidenten der baltischen Staaten bestehen jedoch darauf, dass ihre Länder im Mai 1945 nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur in die kommunistische Unterdrückung gezwungen wurden. Auch die Europäische Kommission hat sich in einer Erklärung zum 60. Jahrestages des Kriegsendes dieser Sichtweise angeschlossen - denn Estland, Lettland und Litauen sind seit einem guten Jahr Mitglieder in der Europäischen Union. "Wir können nicht die Tatsache leugnen, dass die drei baltischen Länder lange Zeit gegen ihren Willen besetzt waren", hatte der ehemalige EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen bei einem Besuch in der estnischen Hauptstadt Tallinn Anfang Mai gesagt.
Unterschiedliche Erwartungen
"Die heikle Frage sollte eigentlich kein Thema auf dem EU-Russland-Gipfel sein", erklärte ein EU-Diplomat in Brüssel in der vergangenen Woche. Nun ist es doch wahrscheinlich, dass das Thema Annexion und russische Geschichtsklitterung angesprochen wird, zumal Russland eigentlich zwei Grenzabkommen mit Estland und Lettland unterzeichnen und die Grenzziehung mit Litauen festlegen soll.
Der stellvertretende russische Außenminister Wladimir Tschischow warnte während einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche vor übertriebenen Erwartungen: Es werde keine Sensationen bei diesem Routine-Gipfel geben. Doch der Präsident der EU-Kommission, José Barroso, der zur Vorbereitung des Treffens persönlich im April nach Moskau gereist war, gab sich kurz vor dem Gipfel optimistisch. "Nach den konstruktiven und positiven Gesprächen, die ich kürzlich mit Präsident Putin hatte, möchte ich mit diesem Gipfel unsere Beziehungen zu Russland auf eine höhere Ebene bringen", erklärte Barroso vor seiner Abreise in Brüssel.
Zusammenarbeit in vier "Räumen"
Die EU und Russland hatten beim Gipfel von St. Petersburg 2003 eine engere Partnerschaft in vier sogenannten "Gemeinsamen Räumen" vereinbart: Innere Sicherheit, Äußere Sicherheit, Wirtschaft sowie Wissenschaft und Kultur. Damit würden erstmals "die Werte fixiert, die Russland und die EU verbinden", sagte der russische EU-Beauftragte Jastrschembski. Seither scheiterten jedoch konkrete Vereinbarungen an strittigen Details und einer deutlichen Abkühlung der Beziehungen. Vorläufig soll ein Katalog von konkreten Maßnahmen ausgehandelt werden, den beide Seiten abarbeiten müssen, um die "Räume" zu schaffen.
Zähe Verhandlungen mit Kompromissen
Offene Kritik an Putins Konzept der "gelenkten Demokratie" oder den rechtsstaatlichen Defiziten in Russland wird es von EU-Seite wohl nicht geben, so ein EU-Diplomat in Brüssel. Schließlich wollen EU-Kommissionpräsident Barroso und der EU-Ratspräsident, der luxemburgische Premier Jean-Claude Juncker, nach zähen Verhandlungen endlich Ergebnisse sichern. Kritik am Kreml würde nur die Stimmung verderben. Auch das rechtsstaatlich fragwürdige Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Yukos-Konzernchef Michail Chordorkowski soll nicht angesprochen werden, obwohl am 16. Mai das Urteil verkündet werden soll. Denn den "strategischen Partner" möchte die EU "nicht reizen."