Arnon Grünberg: "Viele Holländer sind verunsichert"
16. März 2017DW: Herr Grünberg, wie groß muss die Wut vieler Niederländern sein, dass sie Populisten wie Geert Wilders folgen?
Arnon Grünberg: Wut spielt bestimmt eine Rolle, vor allem aber Verunsicherung, und gewiss nicht nur ökonomische. Anscheinend wissen viele Holländer nicht mehr, wer sie sind. Als ich aufgewachsen bin, im Holland der 1970er und 80er Jahren, da war die Säkularisierung noch nicht so weit fortgeschritten wie jetzt. Da war ganz klar, wozu man gehörte - entweder wählte man katholisch oder protestantisch oder die Sozialdemokraten. Das hat sich in kürzester Zeit geändert. Viele Leute sind unheimlich verunsichert. Und in diese Lücke ist dann zunächst Pim Fortuyn gesprungen und später Geert Wilders.
Die eigene Identität zu verlieren - woher kommt diese Angst?
Man weiß nicht mehr: Wer bin ich, wer sind wir? Das schafft Unsicherheit. Das nur auf Globalisierung und Neoliberalismus zurückzuführen, wäre zu einfach. Es geht um viel mehr als nur um Geld oder den Job. Eigentlich leben die meisten Holländer ziemlich gut. Wir hatten diese beiden Morde, 2002 Pim Fortuyn und 2004 Theo van Gogh. Überall auf der Welt gab es terroristische Anschläge. Und dauernd hat die Politik von Überfremdung, einer muslimischen Gefahr oder von Millionen Afrikanern gesprochen, die kommen würden, auch vor dieser Wahl. Wenn man solche Dinge zu oft wiederholt, fangen die Leute an, es zu glauben. Und trotzdem hat die ganz große Mehrheit der Holländer nicht die Rechtsradikalen gewählt.
Den Niederlanden geht es wirtschaftlich besser denn je, sagen Sie. Aber gibt es nicht auch Verlierer dieses Booms - die dann den Versprechen der Rechten, der Nationalisten, der Populisten glauben?
Sicher, es gibt auch Verlierer. Unser Land ist gewiss kein Paradies. Aber es wäre zu einfach zu sagen, die Leute wählen die Rechtsradikalen aus ökonomischen Gründen. Die meisten Wähler der PVV kommen eher aus den mittleren oder unteren Schichten der Gesellschaft, sogar Professoren. Sie haben Angst zu Verlierern zu werden.
Sie selbst sind ein polyglotter Intellektueller, aber auch Holländer. Was antworten Sie auf die Frage: "Wer sind wir?"
Es gibt viele Antworten. Ich bin Schriftsteller, bin Holländer, lebe in New York und so weiter. Außerdem gibt es selbst in einem kleinen Land wie den Niederlanden große Unterschiede. In Limburg im Süden geht es ganz anders zu als in Amsterdam im Norden. Regionale Identität ist wichtig und weniger gefährlich, als wenn Politiker mit der nationalen Identität spielen und Nationalismus wieder aufleben lassen. Die Identitätsfrage sollte nicht von Politikern gelöst werden. Das sollten die Leute selbst machen, in ihrer Familie, im Sportverein, in der Kirche, wo auch immer. Zu sagen, wer wir sind, ist nicht Aufgabe von Politikern.
Und welche Antworten können Kulturschaffende geben? In Ihrem neuen Roman "Muttermale" geht es auch um Empathie, also Aufmerksamkeit für das Leiden anderer Menschen. Würden Sie sagen, die niederländische Gesellschaft hat an Empathiefähigkeit verloren?
Ja. Die Frage ist aber, mit wem fühlt man Empathie. Es gab eine Zeit, als Holland sehr international war, ins Ausland geschaut und sich gefragt hat, was ist da los. Heutzutage denken viele Holländer – und nicht nur solche, die Wilders und PVV gewählt haben – jetzt müssen wir mal solidarisch mit uns selbst sein. Jetzt geht es mal um uns. America first, aber dann Holland. Das ist eine gefährliche Tendenz.
Solidarität und Empathie hört nicht an der Grenze auf. Man kann schlecht sagen, östlich oder südlich von Maastricht gibt es das nicht mehr. Es wäre auch anti-humanistisch. Aber wenn es noch so etwas wie Humanismus gibt, dass alle Menschen gleich sind, dann ist es gefährlich zu sagen: 'Die Afrikaner oder die Kriegsflüchtlinge aus Syrien sind weniger menschlich als wir. Die haben ihr Schicksal verdient.'
Sie haben eine täglichen Kolumne in der niederländischen Tageszeitung "De Volkskrant". Sie haben letztes Jahr die Eröffnungsrede auf der Frankfurter Buchmesse gehalten. Können Sie die Abschottungstendenzen in vielen Ländern Europas verstehen?
Ich verstehe das irgendwie. Aber das ist keine Lösung. Wir sehen das mit Trump in Amerika, dass die Leute aus der Unterschicht, die ihn gewählt haben, durch seine Pläne verraten werden. Das gleiche würde hier geschehen mit Wilders in der Regierung oder mit Le Pen in Frankreich. Es wäre auch falsch, alles, was ist, zu vernichten, um Neues aufzubauen. Es gibt vieles, was man bewahren sollte. Und gegen die destruktive Tendenz von Rechtsradikalen – in Holland auch von Linksradikalen – sollte man kämpfen.
Welchen Einfluss können Schriftsteller, Künstler und Intellektuelle wie Sie auf den Lauf der Welt nehmen – und das Schlimmste verhindern?
Schwierig. Man sollte den eigenen Einfluss nicht überschätzen. Aber als intellektueller Schriftsteller muss man ganz klar sagen: Wilders hat nicht recht, es gibt viele andere Lösungen. Ob es hilft, weiß ich nicht. Aber es ist das Einzige, was man tun kann.