Auswahl nach Geschlecht
6. Januar 2013Mittlerweile kommen in Albanien 112 Jungen auf 100 neugeborene Mädchen, gefolgt vom Kosovo und Montenegro mit 110 beziehungsweise 109 Jungen. Das belegt eine aktuelle Studie des UN-Bevölkerungsfonds. Experten zufolge ist ein archaisches Familienbild dafür verantwortlich: Jungen gelten als Stammhalter, sie wahrten den Namen und die Tradition, während Frauen mit der Heirat die Familie verließen. Franziska Brantner, Mitglied der Grünen im EU-Parlament und dort im Ausschuss für die Rechte der Frau, sieht als Ursache ein Zusammenspiel verschiedener Faktoren: "Armut und daher mangelnde Verhütung sowie eine starke Diskriminierung von Frauen." In Albanien etwa sei der Zugang zu Verhütungsmitteln auf dem Niveau eines Entwicklungslandes.
Fatale Folgen des Frauenmangels
Unbestritten sind die verheerenden gesellschaftlichen Folgen des Jungenüberschusses. "Man könnte annehmen, dass Frauen in männerdominierten Gesellschaften wie Prinzessinnen behandelt werden, doch die Realität zeigt: es wird für sie gewalttätiger und unangenehmer", so Franziska Brantner. Für Doris Stump, Schweizer Abgeordnete in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates in Straßburg, hängen Frauenmangel und Prostitution zusammen, denn: "Die Verfügbarkeit von Frauen wird auf andere Weise sichergestellt, indem Frauen aus anderen Ländern eingeführt werden, sozusagen als Ware." Die Studie des UN-Bevölkerungsfonds belegt außerdem, dass die Zahl der Zwangsverheiratungen von Minderjährigen sowie die Selbstmordraten unter Frauen steigen.
Erschütternde Entwicklung in Asien
Biologisch normal ist ein Geschlechterverhältnis von 105 Jungen zu 100 Mädchen. Dieses natürliche Ungleichgewicht wird später durch die höhere Sterblichkeit von männlichen Säuglingen und Kindern ausgeglichen. In manchen Regionen Indiens oder Chinas aber kommen heute bereits 120 bis 130 Jungen auf 100 Mädchen. In ganz Asien fehlten rund 117 Millionen Frauen, schätzt der Bevölkerungsexperte Christophe Guilmoto vom Institut für Entwicklung an der Universität Paris-Descartes. Guilmoto untersucht seit Jahren das weltweite Geschlechterverhältnis und hat auch die aktuelle UN-Studie verfasst. Angesichts der internationalen Entwicklung sprechen Demografen in Anlehnung an das Wort Genozid längst von einem Genderzid, will heißen: von Geschlechtermord.
Folgen der Pränataldiagnostik
Traurig, aber wahr: Der medizinische Fortschritt leistet der gezielten Abtreibung Vorschub. So können Ärzte durch Ultraschallaufnahmen das Geschlecht etwa ab der 14. Schwangerschaftswoche bestimmen. In diesem zweiten Drittel der Schwangerschaft ein Kind abzutreiben, ist jedoch in vielen europäischen Staaten verboten, so wie es auch verboten ist, ein Kind aufgrund seines Geschlechts abzutreiben (in den USA gilt dies übrigens nicht). Die Geburtenstatistik in Ländern wie Albanien oder Mazedonien lässt jedoch andere Vermutungen zu: dass nämlich die Gesetze vielerorts unterlaufen werden - sei es, indem illegal abgetrieben wird oder indem für den Abbruch andere Gründe als das Geschlecht vorgeschoben werden.
Frauenrechtlerinnen sehen auch einen Trend zur Geschlechterselektion in EU-Mitgliedsstaaten. So berichten dänische Medien von einem regelrechten Abtreibungstourismus nach Schweden, wo Abbrüche bis zur 18. Schwangerschaftswoche legal sind. Studien aus Norwegen und Großbritannien belegen einen Jungenüberschuss bei Einwanderern aus asiatischen Kulturkreisen, vor allem beim zweiten und dritten Kind. Die vermuteten gezielten Abtreibungen lassen sich allerdings nicht durch die nationalen Geburtenraten belegen.
Selektion durch künstliche Befruchtung
Auch bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) fände eine Selektion des Geschlechts statt, sagt die Kölner Medizinethikerin Christiane Woopen: "In der europäischen Statistik gibt es Paare, bei denen nach drei Kindern desselben Geschlechts die PID vorgenommen wird und nur ein Embryo des anderen Geschlechts in die Gebärmutter übertragen wird". Bei der PID werden die Gene von im Reagenzglas befruchteten Eizellen untersucht, dabei wird auch das Geschlecht bestimmt. Woopen fordert deshalb für Deutschland: "Wir müssen dafür sorgen, dass die PID eine Ausnahme bleibt". Das Problem: Die PID wird im europäischen Ausland teilweise laxer gehandhabt als in Deutschland, wo jeder Fall vor einem Ethikrat verhandelt werden muss.
Rechtliche Handhabe schwierig
Bereits in einer Resolution von November 2011 stellte der Europarat in Straßburg fest: "Die pränatale Geschlechtsselektion hat besorgniserregende Ausmaße angenommen". Doch die Europäische Union hat rechtlich keine Handhabe. Denn Abtreibungsgesetze wie auch die strafrechtliche Verfolgung von Verstößen unterliegen der Gesundheitspolitik der einzelnen Länder. Deshalb könne die EU auch nicht bei Beitrittskandidaten wie Albanien oder Mazedonien auf eine Verbesserung der Verhältnisse bestehen. Die EU-Abgeordnete Franziska Brantner bedauert, dass das Thema bis heute nicht das EU-Parlament beschäftigt hat, denn es sei "nicht nur eine gesundheitliche, sondern auch eine menschenrechtliche Frage". Von strikteren Abtreibungsgesetzen hält Brantner nichts. Neben sozialen Verbesserungen und Armutsbekämpfung fordert sie vor allem ein gesellschaftliches Umdenken: "Es braucht vor allem einen Bewusstseinswandel für die Gleichstellung von Frauen gegenüber Männern". Hoffnung macht die Entwicklung in Südkorea: Dort konnte durch Medienkampagnen und Gesetze die Geburtenrate, die einst bei 100 Mädchen zu 115 Jungen lag, auf 100 zu 107 gesenkt werden.