Auschwitz, die Muslime, die Juden - eine längere Geschichte
19. Januar 2020"Da steht ein Kerl namens Mustafa, groß wie ein Schrank, vor einem riesengroßen Berg an Kinderschuhen. Und jeder dieser Kinderschuhe gehörte mal zu Kinderfüßen. Und plötzlich merke ich: Bei Mustafa tut sich was." Raed Saleh schildert der Deutschen Welle eine Beobachtung bei seinem ersten Besuch in Auschwitz-Birkenau, an einen der erschütterndsten Eindrücke im "Block 5" des Lagers. 2013 reiste der SPD-Fraktionschef im Berliner Landesparlament mit Jugendlichen aus Berlin-Spandau in die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau. An jenen Ort im heutigen Polen, an dem die Deutschen bis 1945 mehr als 1,1 Millionen Menschen, zumeist Juden, ermordeten.
Raed begleitete die "jungen Leuten aus einer sehr vielfältigen, multireligiösen Umgebung, in der Antisemitismus bei jungen Muslimen durchaus eine Rolle spielt". Der Politiker, vor 42 Jahren in Sebaste im Norden des israelisch besetzten Westjordanlandes geboren und als Fünfjähriger nach Deutschland gekommen, ist selbst Muslim. Dass er sich auf den Weg nach Auschwitz machte, erregte bundesweit Aufsehen. Er machte es später in seiner Autobiographie zum Thema. Er war der bis dahin prominenteste Muslim aus Deutschland, der jenen Ort besuchte, der zum Symbol für das Leid der Juden im Holocaust wurde.
"Nur eine Handvoll aus arabischen Ländern"
Das ist bis heute recht selten. Im Jahr 2019 besuchten mehr als 2,3 Millionen Menschen die Gedenkstätte Auschwitz. Davon, sagt deren Director Piotr Cywiński der DW, seien im Grunde "nur eine Handvoll Menschen aus arabischen Ländern" gekommen, laut offiziellem Reservierungssystem etwas über 3.200. Dabei frage das Zentrum die Besucher nicht nach ihrer Religion. So sehe man auch in Gruppen aus Frankreich, Norwegen, Deutschland und anderen Ländern Menschen, die sich mit dem Islam identifizierten. Er sei sich, so Cywinski, "sicher, dass für jeden von ihnen der Besuch der authentischen Stätte des ehemaligen Lagers, wie für alle anderen Besucher, eine wichtige persönliche wie auch universelle Erfahrung ist".
Am Donnerstag (23. Januar) erwartet die Gedenkstätte den bisher ranghöchsten offiziellen muslimischen Gast. Es ist – das Wort ist in diesem Fall passend - eine Sensation. Mohammed Al-Issa ist Generalsekretär der Islamischen Weltliga, die mehr als eine Milliarde Muslime weltweit vertritt; als saudischer Politiker war er auch schon mal einige Jahre Justizminister seines Landes.
Und auch die Umstände seines Besuchs sind sensationell: Al-Issa kommt gemeinsam mit dem Direktor des American Jewish Committee (AJC), David Harris. Der 54-jährige Islamgelehrte auf der einen Seite – auf der anderen Seite der 70-jährige jüdische Jurist, selbst Sohn von Holocaust-Überlebenden.
"Bis ins Mark erschüttert"
Der gemeinsame Besuch in Auschwitz hat eine zweijährige Vorgeschichte, die lange vor der barbarischen Ermordung des saudischen Jounalisten Khashoggi in Istanbul und dem folgenden Bemühen der saudischen Seite um Ansehen begann. Sie begann mit einem Schreiben, das so gar nicht passt zu weit verbreitetem muslimischem Judenhass und zur Ausblendung der Shoa in schulischen Lehrplänen vieler arabischer Länder.
Vor knapp zwei Jahren schrieb Al-Issa der Direktorin des US Holocaust Memorial Museums in Washington und drückte sein "großes Mitgefühl mit den Opfern des Holocaust" aus, der "die Menschheit bis ins Mark erschüttert" habe. Der wahre Islam sei gegen solche Verbrechen. "Wir betrachten jede Leugnung des Holocaust oder die Relativierung seiner Folgen als ein Verbrechen", so Al-Issa.
Im Mai 2018 besuchte er das Museum in Washington, "ich sah mit eigenen Augen die Berge von Beweisen. … Man muss nicht ins Museum gehen, um die Ungeheuerlichkeit des Holocausts zu erkennen – aber niemand, der ins Museum kommt, kann es leugnen."
Er fordere alle Muslime auf, so Al-Issa, die Geschichte des Holocaust kennenzulernen und Gedenkstätten zu besuchen. Und er zitierte Elie Wiesel: "'Für die Toten und die Lebenden, wir müssen Zeugnis ablegen.' Wie der Heilige Koran vorschreibt: Ihr, die ihr glaubt, seid aufrichtig für Gott und seid Zeugen der Gerechtigkeit."
Positives Echo
All das schilderte Al-Issa in einem Gastbeitrag der "Washington Post" am 25. Januar 2019, vor dem damaligen Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz also. Er selbst berichtete in dem Text, dass ihn nach seinem öffentlichen Schreiben an die Direktorin des Washingtoner Holocaust-Museums "eine Flut" von Nachrichten muslimischer Rechtsgelehrter erreicht habe, die ihn unterstützt hätten. "Kein einziger angesehener Gelehrter hat sich gegen diese Ansicht gestellt." Aber auch das gehört zum Gesamtbild: Im Internet finden sich auch zahlreiche Reaktionen aus arabischen Ländern, die ihn kritisierten.
AJC-Direktor Harris und MWL-Generalsekretär Al-Issa nahmen Kontakt auf – im Mai 2019 kündigten sie an, zum 75. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee am 27. Januar 2020 gemeinsam mit Delegationen die Gedenkstätte zu besuchen. Nun werden sie wenige Tage vor dem offiziellen Gedenktermin zweieinhalb Stunden gemeinsam dort sein.
Die falsche Erzählung
Auch per Zeitungsbeitrag bekam die muslimische Seite übrigens eine Antwort. Vor einem Monat schrieb Rabbiner Marc Schneier (60), einstiger Vizepräsident des Jüdischen Weltkongresses und seit langem ein Motor im Gespräch mit dem Islam, in der "Jerusalem Post". Und beklagte die "falsche Erzählung, dass die Muslime den Juden feindlich gesinnt" seien. Als eines seiner Gegenbeispiele führte er Al-Issa an. Er sei zuversichtlich, dass viel mehr Muslime, als man gemeinhin annehme, sich für Juden einsetzen würde.
Und nun der Gang nach Auschwitz, auch zum Ausstellungsraum mit den Kinderschuhen und den Bergen an Brillen und Bärten, auch zur Rampe, von der Juden direkt ins Gas getrieben wurden. "Es geht ja nicht um Schuld", sagt Raed Saleh in der Erinnerung an seinen ersten Besuch. "Ich möchte, dass auch meine Generation und die meiner Kinder das Gedenken fortsetzt. Das ist die beste Medizin gegen Rechtsextremismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit."
Er spricht von einem Sinneswandel bei den jungen Muslimen, die er begleitete. "Mich hat das sehr bewegt. Ich habe gemerkt, wie plötzlich Fragen aufkamen, die es sonst so nicht gegeben hätte." Er wünsche es jedem jungen Menschen in Deutschland, dass er mal hingehe nach Auschwitz "und das Ganze fühlt". Es sei "ein gutes Symbol, ein gutes Zeichen", wenn so ein ranghoher Vertreter der muslimischen Gemeinschaft wie der MWC-Generalsekretär Auschwitz besuche.
Nie wieder
Auch Aiman Mazyek, der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, der in den letzten Jahren mehrere Male mit Gruppen junger Muslime und Juden in der Gedenkstätte war, begrüßt den Besuch hoffnungsvoll. Das sei kein rein politisches, sondern auch ein religiöses Geschehen, sagte er der DW.
Und es könne sich in den Gesellschaften islamisch geprägter Ländern an der Basis auswirken. Mazyek: "Ein Gang nach Auschwitz ist nicht nur für Juden und auch für Christen immer eine Frage nach Gott." Die Lehre aus Auschwitz, das " Nie wieder", müssten "auch wir als Muslime" verinnerlichen. Das sei heute eine Selbstverständlichkeit und habe in der Vergangenheit "vielleicht nicht so stattgefunden".
Und Piotr Cywiński, der als angesehener Direktor des Gedenkzentrums so viele offizielle Gäste begrüßt und begleitet? Er verweist auf eine Lehre im Koran, wonach der Mensch alles, was er tue, ob gut oder böse, auch sich selbst tue. Dasselbe gelte für die Erinnerung. "Die Erinnerung kann uns in unserer Reife unterstützen, wenn wir uns ihr weise und mit der Bereitschaft zur Selbstkritik nähern."