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Augenzeugen des Völkermords

Andrea Winter6. April 2012

Roy Gutman und Andree Kaiser dokumentierten im Bosnien-Krieg als erste Journalisten die Gräueltaten der serbischen Streitkräfte an Zivilpersonen. Aufgrund ihrer Beweise konnten die Verbrechen gestoppt werden.

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Drei junge Frauen in einer Turnhalle der belagerten Stadt Tuzla. Sie sind Vergewaltigungsopfer der serbischen Streitkräfte, zusammen mit hunderten anderen Frauen. Die Frauen baten Andree Kaiser, sie zu fotografieren, damit die Weltöffentlichkeit von ihrem Leid erfährt. Als Andree Kaiser alle Frauen fotografiert hatte, brachen sie alle gemeinsam in Tränen aus.
Trauer über ihr Schicksal: Junge Vergewaltigungsopfer der serbischen Streitkräfte in TuzlaBild: Andree Kaiser

"Bild und Genozid: Die Präsentation des Unvorstellbaren", lautete der Titel einer internationalen Konferenz an der Berliner Humboldt-Universität im Dezember 2011. Der Journalist Roy Gutman und der Fotograf Andree Kaiser hatten dort wieder einmal einen gemeinsamen Auftritt. Die beiden veranschaulichten dem Publikum anhand zahlreicher Fotos, wie sie im Juli 1992 die Gräueltaten der serbischen Streitkräfte in Bosnien beobachtet, dokumentiert und schließlich als systematische Verbrechen gegen Zivilpersonen entlarvt hatten.

In den USA wollte man damals bald mehr über den blutigen Konflikt auf dem Balkan erfahren, also schickte die Zeitung Newsday ihren versierten Europakorrespondenten dorthin. Roy Gutman hatte bereits in den 1970er Jahren für die Nachrichtenagentur Reuters aus Titos Jugoslawien berichtet und war mit der dortigen Kultur vertraut.

"Die Ermordung von Zivilisten ist an der Tagesordnung"

Roy Gutman, geboren am 5. März 1944, New York City) ist ein US-amerikanischer Journalist und Autor. Als Leiter des EUropa-Büros für die Zeitung "Newsday" berichtetet er von 1989 bis 1994 über den Fall der Berliner Mauer und die deutsche Wiedervereinigung. Für seine Berichterstattung als Reporter im Bosnien-Krieg wurde er 1993 mit dem Pulitzer-Preis für internationalen Journalismus ausgezeichnet. 1994 veröffentlichte Roy Gutman das Buch "Augenzeuge des Völkermords" über die sogenannten ethnischen Säuberungen in Bosnien. Gutman war als Journalist auch für die Nachrichtenagentur Reuters in Bonn, Wien, Belgrad, London und Washington tätig. Eingereicht von Andrea Winter am 4.4.2012
Der US-Journalist und Pulitzer-Preisträger Roy GutmanBild: Sebastian Mayer

20 Jahre später fand er zu seinem Entsetzen heraus, dass die serbischen Streitkräfte in Bosnien Internierungs- und Vergewaltigungslager führten und im Namen einer "ethnischen Säuberung" gegen Zivilisten vorgingen. Der Krieg sei auf den europäischen Kontinent zurückgekehrt, schlussfolgerte Gutman - und zwar anscheinend ohne die Beachtung der Regeln der Kriegsführung, die als Folge des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust aufgestellt worden waren: "In der Realität unserer Zeit greifen Folterungen um sich, die Ermordung von Zivilpersonen ist an der Tagesordnung".

Im Juli 1992 wurden die beiden Reporter in das Lager Manjača nahe der Stadt Banja Luka im Norden des Landes gelotst. Dort wurden ihnen fünf Gefangene in ordentlichen Uniformen präsentiert. "Gleichzeitig fuhren ein paar hundert Meter entfernt LKWs im Fünf-Minuten-Abstand durch die Tore", berichtet Andree Kaiser im DW-Interview. "Von Weitem war erkennbar, wie Menschen mit großen Eisenstangen oder Knüppeln von diesen Planwagen herunter getrieben wurden. Sie mussten sich in Viererreihen aufstellen, dann wurden ihnen die Haare kahl geschoren."

"Eine Art Todesmaschinerie"

Kaiser hatte keine Genehmigung, diese Szenen zu fotografieren. Ihm war strikt verboten worden, andere Bilder zu machen als die von den Vorzeige-Gefangenen. Doch dann gelang es dem Fotografen, seine „Bewacher“ für einen Augenblick abzulenken, ungesehen konnte er das Foto schießen (siehe Abbildung dazu). Später diente das Bild als Beweis dafür, dass es in Bosnien Lager gibt, in denen Zivilisten festgehalten, gefoltert und ermordet werden. Kaiser nennt das heute "eine Art Todesmaschinerie".

Im Juli 1992 fotografierte Andree Kaiser im Internierungslager Manjača nahe der Stadt Banja Luka im Norden von Bosnien. Dort beobachtete er zahlreiche Männer, die von Planwagen herunter getrieben wurden. Sie mussten sich in Viererreihen aufstellen, ihre Haare wurden kahl geschoren. Später diente das Bild als Beweis dafür, dass es in Bosnien Lager gibt, in denen Zivilisten festgehalten, gefoltert und ermordet werden.
Juli 1992: Deportierte Männer im Lager Manjača. Das Foto wurde heimlich aufgenommenBild: Andree Kaiser

Ende August 1992 weckten diese Fotos und Zeitungsartikel das Interesse der Weltöffentlichkeit - und das, obwohl die westeuropäischen Regierungen sich nicht einig waren und die Administration von Präsident George Bush senior nur langsam reagierte: "Wir hatten eine ganze Seite in der New Yorker Ausgabe von Newsday", sagt Gutman. "Irgendjemand hatte mehrere hundert Exemplare der Zeitung gekauft und sie auf den Schreibtisch jedes Delegierten bei den Vereinten Nationen gelegt. Das zeigte Wirkung".

Es dauerte nicht lange, dann waren etwa 460 Journalisten in Bosnien. „Indem wir den Scheinwerfer auf den Ort richteten, konnten wir dazu beitragen, die Verbrechen dort zu stoppen. Für mich war es einer der größten Augenblicke meines Berufslebens." Gutman weiß aber sehr genau, dass ein gutes Foto genau so viel wert ist wie 10.000 Worte. "Ich denke, dass die Fotos von Andree unbezahlbar sind", lobt er seinen Fotografen von damals. "Ohne solche Fotos wäre die beste Story eben nur eine Story".

Systematische Vergewaltigung als Kriegsmittel

Aufgrund dieser wichtigen Dokumente gab es große Reaktionen auf Seiten der Politik; Kaiser und Gutman hatten bald auch zahlreiche 'Verbündete' auf Seiten der Bosnier, darunter einen bedeutenden Imam. Der Mann berichtete, dass zahlreiche muslimische und kroatische Frauen in der belagerten Stadt Tuzla misshandelt würden, so Kaiser. Mühselig brachte man die beiden Berichterstatter dorthin. Vier Tage brauchten sie für 60 Kilometer und mussten nachts immer wieder die Frontlinie überqueren. Bei ihrer Ankunft in Tuzla fragten Gutman und Kaiser nach, ob es der Wahrheit entspräche, dass die Frauen hier systematisch vergewaltigt worden sind oder in Vergewaltigungslagern festgehalten werden. Dies wurde bejaht. Es gäbe hunderte dieser Frauen, hieß es, sie warteten in einer Turnhalle.

Bilder als Symbol des Unrechts

Andree Kaiser, Fotograf. Wurde in Ostberlin geboren und lebt heute in Freiburg. Zusammen mit dem Journalisten Roy Gutman dokumentierte er im Juli 1992 als erster Fotograf überhaupt die Gräueltaten der serbischen Streitkräfte gegen Zivilpersonen.
Mutig und engagiert: Der Fotograf Andree KaiserBild: Andree Kaiser

Andree Kaiser erinnert sich, dass die Frauen ein großes Bedürfnis gehabt hätten, über ihr Leid zu sprechen und es an die Weltöffentlichkeit bringen wollten. Am dritten Tag hätten sie sich schließlich von ihm fotografieren lassen: "Es entstand ein Gruppenbild aller Frauen mit ihren Müttern und ihren Kindern. Alle waren miteinander verbunden", sagt der 47-Jährige. Erst sei es noch sehr ruhig gewesen, doch auf einmal hätten alle geweint. "Mir kam es im Nachhinein so vor, als fielen sich die Frauen in die Arme, weil sie alle ein ähnliches Schicksal erlitten hatten." Auch Andree Kaiser konnte sich "dieser emotionalen Wolke" nicht entziehen. Und so entstand sein berühmtes Foto, auf dem sich drei junge Frauen umarmen und weinen (siehe Abbildung oben). "Das Bild bewirkte viel", erklärt der Fotograf, "nicht nur auf dem Cover von Newsweek oder Stern. Es wurde weltweit zum Symbol des Unrechts.“

Eine Lawine von Berichten wurde ausgelöst

Was waren die Folgen dieser Berichterstattung, gab es danach messbare politische Entscheidungen? Vor allem seitens der US-amerikanischen Frauenbewegung gab es zunächst großen Druck, und im Kongress wurden viele Reden gehalten. Doch für weitere politische Entscheidungen hätte die Kraft seiner Bilder nicht gereicht, meint Kaiser gegenüber DW. Das ist ein ziemliches Understatement, denn er und Gutman hatten es als einzige Reporter nach Bosnien geschafft und sich dort - als Zivilisten getarnt - in die umkämpften Gebiete hineingewagt. Erst in Folge ihrer Berichte reisten hunderte von Journalisten und Kamerateams Ende August 1992 in die Region, eine Lawine kam ins Rollen.

Langsam formierte sich die Politik. Das Rote Kreuz kam in die Lager und registrierte die Insassen. Und wer registriert war, konnte nicht mehr verschwinden. Tausende muslimische Männer sollen gerettet worden sein. Zuletzt waren die bosnischen Serben den internationalen Protesten offenbar nicht mehr gewachsen, sie lösten die Lager sechs Wochen später auf. „Ich denke“, sagt Roy Gutman rückblickend, "große Fotografien können im Moment großer Verbrechen wirklich helfen, diese zu stoppen“. Für ihre herausragenden Leistungen wurden beide 1993 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet.