Streit um Sanierung einer Berliner Kultstraße
17. Februar 2011Eigentlich ist auch die Kastanienallee nur eine ganz normale Straße wie viele im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg. Auf 22,60 Meter Straßenbreite bewegen sich Autos, Straßenbahnen, Fahrräder und Fußgänger auf das Stadtzentrum zu oder davon weg. Doch die Flaniermeile genießt Weltruf - und das trotz oder gerade wegen des breiten Gehwegs, der mehr ein Flickenteppich aus schrägen Steinplatten und die Stolpergefahr erhöhenden Teerflecken ist.
Kein internationaler Reiseführer Berlins, der die Kastanienallee nicht als Geheimtipp empfiehlt, um dem Lebensgefühl der Einheimischen auf die Spur zu kommen. Regisseure, Schauspieler, Musiker und Buchautoren nennen sie "ihre Straße", Journalisten tauften sie "Castingallee". Wohl auch, weil hier zwischen kleinen Designer-Modegeschäften und Bio-Hotdogladen, Sprachschule und Brunch-Restaurants eine multikulturelle junge Generation Deutschlands flaniert und sich gegenseitig beobachtet. Darunter sind derzeit viele junge Männer mit Szene-Vollbart und Mütter mit teuren Kinderwägen. Beim Espressotrinken schauen sie im Café gemeinsam in ihren Laptop - so das Klischee, das in der Straße von den einen in der Tat gelebt und von den anderen belächelt wird.
Großputz oder Zerstörung einer Kultstraße?
"Menschen aus aller Welt fühlen sich hier wohl, lieben die Straße für ihre Kleinkunst an Straßenlaternen und Hauseingängen, mögen das Schiefe und Schräge", sagt Till Harter. Der 40-jährige Mitinhaber der "Bar 103" lebt, arbeitet und liebt, wie er sagt, seit 20 Jahren auf dieser Straße. Zuerst seien nach der Wiedervereinigung Deutschlands die Hausbesetzer und Künstler hierher, in den Ostteil der Stadt gekommen. Später hätten Studenten, Kreative, junge Familien und Touristen das Straßenbild geprägt. Er selbst kam aus Süddeutschland, wie viele andere auch.
Harter steckt sich eine selbst gedrehte Zigarette an, schaut von seinem Laden die Straße hinunter. "Das Unfertige, Schiefe, wild Gewachsene, Freie", all das sei jetzt in Gefahr durch einen "aufgezwungenen, brachialen Totalumbau" der Straße, an dessen Ende eine Straße stehe, die "gerade, sauber und wohlgeordnet" sei, aber kein Berlin-typisches Flair mehr versprühe. Deshalb organisieren Till Harter und sein 50-jähriger Nachbar Matthias Aberle den Widerstand gegen das von den Behörden der Stadt geplante Sanierungsprojekt.
"Stoppt K21" taufte sich die Bürgerinitiative, die gegen zwei Jahre "unnötigen" Baulärm kämpft und dabei kräftige Anleihen an den deutschlandweit bekannt gewordenen Bürgerprotesten in Stuttgart nimmt. Mit dem Slogan "Stoppt Stuttgart 21" protestieren dort Bürger gegen den Neubau eines unterirdischen Bahnhofs. Natürlich sei die Kastanienallee kleiner, sagt Harter, aber hier wie dort hätten die Bürger zunehmend das Gefühl, dass "über ihre Köpfe hinweg ihr Lebensraum einfach verändert wird".
Luxusdebatte oder Grundsatzfrage?
Was "Stoppt K21"-Aktivisten wie Harter oder Aberle als Bürokraten-Streich beschimpfen, das ist für Jens-Holger Kirchner "behutsame Stadterneuerung". Der zuständige Bezirksstadtrat ist die treibende Kraft hinter den Sanierungsplänen. Aber er ist nicht etwa ein konservativer Kommunalpolitiker, der von den Anwohnern per se abgelehnt würde, sondern ausgerechnet Grüner. Also Mitglied jener Partei, die im betroffenen Bezirk bei Wahlen bislang rund 50 Prozent Zustimmung hatte.
"Die Kastanienallee ist kein Museum, auch wenn sie berühmt ist", sagt Kirchner. Er wirft Menschen wie Till Harter vor, Angst vor notwendiger Veränderung zu haben. "Ich freue mich, dass so viele Hinzugezogene die Kastanienallee als ihre Heimat begreifen", sagt er. Auch er ist nicht gebürtiger Berliner. "Aber nur in topsanierten Wohnungen zu leben, möglichst mit abgezogenen Dielen, aber die Straße soll schön ranzig sein und kein Rollstuhlfahrer kommt da durch, das ist aus meiner Sicht bigott." Kirchners Umbauplan sieht vor, die gepflasterten Gehwege behindertengerecht zu sanieren, für die Straßenbahn sichere Haltestellen zu bauen und die Zahl der Parkplätze zugunsten abgetrennter Fahrradwege zu verringern. 1,5 Millionen Euro will die Stadt Berlin bis 2013 für die Sanierung der weniger als einen Kilometer langen Straße bereitstellen. Harter und Aberle wollen eigentlich nur die Gehwege ausbessern. Das koste beinahe nichts, sagen sie.
Die Bürgerbeteiligung sei geradezu vorbildlich gewesen, lobt Kirchner das eigene Verfahren. Ganz und gar anders als beim Neubauprojekt in Stuttgart, betont er. Mehrere Monate hätten die Bürger Zeit gehabt, Pläne einzusehen und Änderungen vorzuschlagen. Schulklassen, Verbände und rund 80 Anwohner hätten mitdiskutiert. Jede Kritik sei ernst genommen worden. "Bürgerbeteiligung heißt aber auch, dass am Ende entschieden wird", sagt er an die Adresse von Anwohnern wie Filmemacher Matthias Aberle, die ihm eine "Scheinbeteiligung" vorwerfen: "Es ist ein Unterschied, ob ich mich mit Leuten treffe, deren Argumente anhöre und dann ihre Forderungen in die Planung einbaue oder ob ich Leute treffe, sie reden lasse und dann doch mache, was ich will", sagt Aberle. Er will in Kürze einen Dokumentarfilm über den Aufstand auf der Castingallee herausbringen. Der grüne Stadtrat spottet, hier wollten einige auf dem Rücken der Sanierung "Werbung für den Mythos Kastanienallee" machen.
Am 14. Mai soll eine Demonstration unter dem Motto "Tag des Zorns" folgen, eine gewagte Entlehnung des ägyptischen Revolutionsmottos aus den letzten Tagen. Eine Gruppe von Projektgegnern will so eine Bürgerbefragung der Anwohner erzwingen.
Welchen Wandel wollen wir?
Sebastian Mücke betreibt drei Läden auf der Kastanienallee, lebt in einem Hinterhaus-Atelier zwischen bunt bemalten Holzschränken und asiatischer Kunst. Eines seiner Geschäfte heißt "Heimat Berlin". Mücke ist in Hessen geboren. Anfänglich war er eines der Zugpferde des Protests, jetzt ist er zu Kompromissen bereit. Man habe durchgesetzt, dass internationale Künstler die Straße mitgestalten können, ebenso wie eine Entschleunigung auf Tempo 30. Auch wenn ihn noch einiges an Kirchners Umbaukonzept schmerze, sehe er auch Chancen: "Wir können hier eine Straße gestalten, die die Kastanienallee zu einer Top-Castingallee macht." Er ist für einen Wandel light.
Seit mehr als zwei Jahren wird über die Zukunft der Kastanienallee gestritten. Es ist auch ein Streit um die Zukunft Berlins. Die internationale Imagekampagne der Stadt scheint die Debatte aus der Kastanienallee schon einmal vorweggenommen zu haben: Auf großen Metallschildern und Stoffbannern empfängt Berlin seine Gäste mit dem Slogan "Sei Stadt, sei Wandel, sei Berlin". Nur welcher Wandel gemeint ist, dass ist umstritten.
Autor: Richard Fuchs
Redaktion: Kay-Alexander Scholz