Ohne Rachegelüste
7. Juli 2011Rais Bhuiyan ist ein eher kleiner, schmächtiger Mann in dunklem Anzug. Er spricht in ausgefeilten, wohlüberlegten Sätzen, von denen viele exakt mit jenen übereinstimmen, die auf seiner Internetseite stehen. Der 37-Jährige ist in einer Mission unterwegs, die ihm, wie er sagt, seine Eltern und seine islamischen Lehrer mit auf den Weg gegeben haben: "Vergebung ist die beste Politik. Ein Menschenleben zu retten, ist wie die ganze Menschheit zu retten."
Das Menschenleben, das Rais Bhuiyan retten will, ist das von Mark Ströman. Der US-Amerikaner wartet in der Todeszelle in Texas auf die für den 20. Juli angesetzte Hinrichtung. Ströman erschoss im September 2001 zwei Menschen, von denen er annahm, dass sie aus dem Nahen Osten stammten: einen Inder und einen Pakistani. Und ein weiterer Schuss aus einer kurzläufigen Schrotflinte hätte beinahe auch Rais Bhuiyan umgebracht, der zwei Jahre zuvor aus Bangladesch eingewandert war und an einer Tankstelle als Kassierer arbeitete. "Ich weiß nicht, warum er nur einmal schoss", sagt Rais Bhuiyan, "vielleicht dachte er, ich sei schon erledigt". Der Schuss ins Gesicht, der sich angefühlt habe "wie eine Million Bienenstiche", kostete ihn die Sehkraft des rechten Auges.
Rachefeldzug aus blindem Hass
"Ich kam in die USA, um mir eine höhere Bildung anzueignen und den amerikanischen Traum zu erleben", sagt Bhuiyan. "Aber 9/11 hat mein Leben total verändert, wie das vieler Amerikaner."
Auch das von Mark Ströman: Er hatte nach eigenen Angaben wenige Tage zuvor beim Anschlag auf das World Trade Center im fernen New York seine Schwester verloren und sich anschließend auf einen persönlichen Rachefeldzug in Dallas begeben. Am 15. September 2001 erschoss er einen pakistanischen Einwanderer, der ein Lebensmittelgeschäft betrieb, am 21. September überfiel er Rais Bhuiyans Tankstelle, am 4. Oktober tötete er einen indischen Tankstellenbetreiber. Dafür verurteilte ihn ein Gericht in Texas im April 2002 zum Tode.
Rais Bhuiyan, seinem einzigen überlebenden Opfer, gelang es nach langwieriger medizinischer Behandlung wieder ins normale Leben zurückzufinden. Bei der Gerichtsverhandlung gegen Ströman sei er noch traumatisiert gewesen, sagt er, und voller Angst, dass man ihn als einzigen überlebenden Zeugen aus dem Weg räumen wollte. Später fanden sich Unterstützer, die ihm ein Studium ermöglichten, heute ist er nach eigenen Angaben Manager in einer Reisefirma.
Die Todesstrafe bringt nur neues Unglück
"Ich bin gereift", sagt er, "ich habe ihm vergeben, ich habe ihn nie gehasst, und auch nicht Amerika, weil es mir das angetan hat. Ich glaube, Ströman war unwissend und nicht fähig zu unterscheiden zwischen richtig und falsch, sonst hätte er nicht getan, was er tat."
Die Hinrichtung des Häftlings 999409 in der Todeszelle des Gefängnisses von South Livingston in Texas hält der Muslim Rais Bhuiyan für die falsche Antwort. Hass mit Hass zu beantworten, bringe nur mehr Unglück über die Menschen, auch über die Familie von Ströman. Er fordert, dessen Todesurteil in lebenslängliche Haft umzuwandeln, denn niemand habe das Recht, einem anderen das Leben zu nehmen.
Mit seinem Beinahe-Mörder hat er bisher keinen persönlichen Kontakt gehabt, aber die Berichte in den Medien hätten ihn überzeugt, dass dieser sich geändert habe. Kürzlich hat Bhuiyan erstmals einen Brief von Ströman aus dem Gefängnis bekommen - mit einem Satz, der ihn beim Vorlesen die Stimme zittern lässt:
"Ich kenne Ihre Eltern nicht", schreibt der Verurteilte, "aber es ist ganz offensichtlich, dass es wunderbare Leute sind. Denn schließlich waren sie es, die Sie dazu gebracht haben, so zu handeln, wie Sie es jetzt tun - gegenüber jemandem, den Sie mit vollem Recht hassen könnten."
Wenig Aussicht auf Gnade in Texas
Für Gegner der Todesstrafe ist Rais Bhuiyan ein willkommener Verbündeter. Es sei selten, dass ein Opfer so entschieden Gnade für den Täter fordere, sagt Rick Halperin, ein Aktivist der USA-Sektion von Amnesty International. Er begleitet Bhuiyan auf seiner Reise nach Deutschland, wo er Unterstützung sucht. Auch Tom Koenigs, Vorsitzender des Bundestags-Menschenrechtsauschusses, sagt, man habe in einem Brief an den Gouverneur von Texas, Rick Perry, um Gnade gebeten. Alle Parteien in Deutschland seien in diesem wie in anderen Fällen prinzipiell gegen die Todesstrafe. Eine Antwort habe man nicht bekommen.
Mehr als ein Drittel der 1258 Todesurteile, die in den USA seit 1977 vollstreckt wurden, entfallen auf Texas. Der gegenwärtige Gouverneur Perry habe bisher keine einzige Todesstrafe in "lebenslänglich" umgewandelt, sagt Rick Halperin.
Autor: Bernd Gräßler
Redaktion: Christian Walz / Hartmut Lüning