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44. Menschen mit Behinderung auf der Flucht

28. April 2022

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung: Dass unter den über 60 Millionen Geflüchteten weltweit auch Menschen mit Behinderung sind müsste man eigentlich rechnen

https://p.dw.com/p/4AUxa

Zum Podcast geht es hier.

Jingle: DW. "Echt behindert!"

Moderator, Matthias Klaus: Herzlich willkommen zu "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Auf der Flucht zu sein ist schon schlimm genug, dabei noch eine Behinderung oder eine Einschränkung zu haben, ist eine besondere Herausforderung. Vor welchen Problemen Menschen mit Behinderung stehen, wenn sie ihr Land verlassen müssen, wenn sie flüchten müssen - darum geht es heute in "Echt behindert!". Mit mir im Podcast sind zwei Menschen, die sich mit ihren Organisationen gerade um geflüchtete Menschen mit Einschränkungen aus der Ukraine kümmern. Einmal Ulrike Lessig vom Verein "Be an Angel" und Reiner Delgado vom Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverband.

Schönen guten Tag zusammen!

Ulrike Lessig: Schönen guten Tag!

Reiner Delgado: Hallo! Guten Tag.

Matthias Klaus: Frau Lessig, Sie sind im Vorstand des Vereins "Be an Angel". Was macht der Verein genau?

Ulrike Lessig: Also, wir sind seit Anfang März in Moldawien, weil wir einen Hilferuf aus Moldawien bekommen haben. Dort sind Geflüchtete gestrandet, und Moldawien konnte die Menschen kaum versorgen und hatte auch keine Kapazitäten, da irgendetwas zu machen, geschweige denn die Leute weiter zu befördern.

Moldawien gehört nicht zur EU und das Land hat auch nicht so ein funktionierendes Zugnetz wie es das zum Beispiel in Polen gibt, dass die Leute einfach in den Zug klettern und weiterfahren. Und deswegen sind wir dorthin. Mein Mitvorstand, Andreas Tölke, ist seit Anfang März in Moldawien und organisiert Busreisen. Also, wir alle organisieren das natürlich, um die Leute aus Moldawien nach Deutschland zu bringen, mittlerweile auch Frankreich und Italien. Und das funktioniert ganz gut. Wir haben jetzt knapp 3000 Menschen aus Moldawien weggebracht. Und jetzt ist es so, dass wir einen Hilferuf aus der Ukraine bekommen haben, weil dort eben die behinderten Menschen abgeholt werden müssen. Das organisieren wir jetzt auch. Wir haben Busunternehmen, die in der Ukraine die Leute bis nach Moldawien bringen, und wir versorgen sie dort erst mal ein, zwei Nächte, und dann kommen sie weiter. Die Menschen, die keine 34 Stunden Busreise schaffen würden, die werden mit dem Auswärtigen Amt von Chişinău [Hauptstadt Moldawiens - Anmerkung der Redaktion] ausgeflogen.

Matthias Klaus: Sie sind selber im Rollstuhl, können das vielleicht ein bisschen besser ermessen als andere. Was sind denn die Probleme, die Menschen mit Behinderungen jetzt besonders auf der Flucht haben? Einmal ganz konkret: Man kann sich das immer nicht so vorstellen. Man denkt immer: Flüchten ist sowieso schon schlimm. Was machen dann Menschen, die dazu auch noch eine Einschränkung haben? Wo liegen da die Probleme?

Ulrike Lessig: Na ja, richtig problematisch ist schon mal, dass  sich diese Menschen ja gar nicht in irgendeinen Luftschutzkeller bewegen können, weil sie da ja gar nicht reinkommen. Das heißt, sie sitzen im Prinzip irgendwo Zuhause, im ungünstigsten Fall irgendwo im fünften Stock, kommen da auch nicht raus und werden in der Regel auch noch von ihren Eltern versorgt. Das heißt, man hat nicht nur einen behinderten Menschen, den man irgendwie evakuieren muss, sondern da sind dann noch zwei ältere Menschen im Hintergrund, die wir natürlich auch mitnehmen.

Ich glaube, dass die Situation für Behinderte in der Ukraine ungefähr so ist wie bei uns in - weiß ich nicht - in den 50er, 60er [Jahren]. Ich weiß es nicht. Also die Rollstühle, mit denen die Leute kommen, sind in furchtbarem Zustand. Es gibt überhaupt keine abgesenkten Bordsteine oder irgendwas, sodass sie überhaupt alleine von A nach B kommen könnten. Das kann man sich hier nicht mehr so richtig vorstellen. Aber es ist wirklich - ja - nicht behindertengerecht, um es mal vorsichtig auszudrücken. Wir haben jetzt Rollstühle nach Moldawien geschickt, damit wir die Leute dort dann umsetzen können. Und diese Rollstühle können sie dann auch behalten, damit sie wenigstens ein vernünftiges Gefährt haben.

Also, ich finde ... mir allein die Situation vorzustellen: Es ist Fliegeralarm, und ich kann nicht aus meiner Wohnung, ich kann mich nirgendwo in Sicherheit bringen, die [Vorstellung] macht mir schon Gänsehaut. Wirklich! Also da krieg ich schon  ... Oh! Da wird mir schon ganz anders. Und dann eben auch ... ja, es gibt nichts so richtig, was sie unterstützen kann und wir versuchen, alles Mögliche in Gang zu setzen und die Leute da rauszuholen. Mit zwei Pflegekräften, die jetzt immer in den Bussen mitfahren, um die Leute abzuholen, weil es sich dann auch noch als zusätzliche Überraschung herausstellte, dass es auch Menschen gibt, die Dialysepatienten sind, die etwas anderes haben, die regelmäßig versorgt werden müssen. Und da arbeiten wir mit verschiedenen Organisationen vor Ort zusammen und schaffen jetzt auch Krankenhausbetten und solche Dinge wie Infusionspumpen, also Medizinprodukte, nach Moldawien, damit wir die Leute anständig weiter versorgen können.

Matthias Klaus: Herr Delgado, Sie haben als Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband auch ein Projekt gestartet, um Menschen aus der Ukraine zu helfen. Worum geht es da?

Reiner Delgado: Ja, was wir ursprünglich vorhatten, war, in Deutschland zu sagen, dass es uns gibt und dass wir gerne auch Menschen aus der Ukraine helfen wollen, die blind oder sehbehindert sind. Und da haben wir auch so ein bisschen mit angefangen. Und dann gab es einen Hilferuf aus Charkiw, dass [Personen] dort - aber auch Personen aus Charkiw, die schon in Polen sind - dringend weiterkommen und eine gute Aufenthaltsmöglichkeit finden müssen. Und dann haben wir insgesamt drei Busse nach Deutschland fahren lassen und uns darum bemüht, diese Menschen dann hier in Deutschland an Stellen zu verteilen, wo sie gut bleiben können. Das haben wir zusammen mit dem Verband für Blinden- und Sehbehindertenpädagogik gemacht. Ganz viele von den Betreffenden sind dann in Förderschulen für Blinde und Sehbehinderte untergekommen bzw. in Häusern, die diese Einrichtungen haben.

Matthias Klaus: Heißt das, das sind Schülerinnen und Schüler oder ist das durch die ganze Altersstruktur?

Reiner Delgado: Es sind blinde und sehbehinderte Kinder und Erwachsene mit ihren Angehörigen. Und das kann dann zum Beispiel eine vierköpfige Familie mit einem sehbehinderten Kind sein, aber auch mit einem blinden oder sehbehinderten Vater oder [einer blinden oder sehbehinderten] Mutter. Das heißt, es sind einzelne Betroffene, aber oft auch mehrere Angehörige. Wir haben auch Menschen dabei gehabt, also blinde Menschen, die alleine unterwegs waren, oder Paare, wo beide blind oder sehbehindert sind. Also, es ist irgendwie alles dabei.

Matthias Klaus: Wie ist denn da - verglichen mit dem, was Frau Lessig gerade erzählt hat - die Situation von blinden Menschen in der Ukraine gewesen, als es denn keinen Krieg gab?

Reiner Delgado: So ganz im Detail weiß ich das nicht wie - ich sage jetzt mal - wie das Blindenwesen in der Ukraine bisher organisiert ist. Es gibt zumindest nicht so eine sehr gut ausgebaute Selbsthilfestruktur. Es gibt Blindenschulen, also Bildungseinrichtungen für Blinde und Sehbehinderte, auch für den beruflichen Bereich. Also, mich hat das gerade auch sehr beeindruckt, was Frau Lessig erzählt hat. Ich habe gedacht, also wenn man - in Anführungszeichen - "nur blind ist", dann hat man viele Probleme nicht. Also man kann eine Treppe runtergehen. Man kann alleine in einen Luftschutzkeller gelangen. Man kann auch über die Straße gehen, auch wenn da keine Leitlinien sind. Das ist, was wir in Deutschland haben, teilweise dagegen ja Luxus, aber man ist nicht komplett ausgeschlossen, weil man diese Barrieren quasi überhaupt nicht überwinden kann. Und wenn Sie als blinder Mensch einen sehenden Angehörigen haben, dann kommen Sie eigentlich überall hin. Und wenn Sie als Rollstuhlnutzer aber einen Angehörigen haben, heißt das noch lange nicht, dass sie überall hinkommen. Von daher ist das schon echt eine andere Nummer, glaube ich.

Ja, von daher, also jetzt bei den Menschen, die wir jetzt hier kennengelernt haben, da gibt es schon auch alles. Da gibt es Leute, die studieren oder studiert haben, die Englisch können. Es gibt aber auch welche, die noch zusätzliche Einschränkungen haben, teilweise auch geistige Behinderungen, körperliche Einschränkungen. Wir hatten auch eine blinde Frau im Rollstuhl. Und was ich dann auch als große Hürde erlebt habe, ist die Sprache. Also, weil sehr wenige außer Ukrainisch und Russisch noch eine andere Sprache sprechen und man sich dann eben mit Übersetzungs-App oder im günstigsten Fall mit jemand, der dolmetscht, behelfen muss. Und das ist, wenn man blind oder sehbehindert ist und wenn beide Kommunikationspartner diese Behinderung haben, viel komplizierter, als wenn man sich unter Sehenden austauschen kann.

Matthias Klaus: Kommen wir zu dem Punkt, wie es ist, wenn dann die Geflüchteten hier in Deutschland angekommen sind. Frau Lessig, Sie sind ja seit ich glaube 2015 aktiv auf diesem Feld mit ihrem Verein und sind immer bestrebt, die Menschen auch hier zum Beispiel in Arbeit zu bringen, ihnen Wohnungen zu vermitteln. Welche Probleme haben behinderte Menschen da jetzt besonders im Vergleich zu dem, sage ich mal normalen Geflüchteten, wenn es denn so etwas gibt?

Ulrike Lessig: Na ja, es geht schon mal damit los, dass die Leute am Flughafen abgeholt werden bzw. wenn sie mit den Bussen fahren, dann kümmern wir uns ja um die weitere Versorgung. Die Busse fahren dann irgendwohin. Wir hatten zum Beispiel einen Jungen, der herzkrank war. Den konnten wir nach Italien vermitteln, und er konnte dort direkt in einer Spezialklinik einchecken. Also wir kümmern uns dann, dass die Leute dort vor Ort auch ordentlich versorgt werden. Wir haben mittlerweile auch Angebote von behindertengerechten Wohnungen. Das heißt, wir kucken, dass die Leute dann auch genau da hinkommen.

Wenn sie vom Außenministerium ausgeflogen werden, dann kümmert sich das Innenministerium in Deutschland um die Menschen, und da kann ich so weiter gar nichts zu sagen. Ich kann nur etwas über die Leute sagen, die wir vermitteln. Und wir kucken natürlich, dass vor Ort dann genau die Leute da sind, die sie brauchen. Also, wir haben verschiedene Behinderten-Organisationen vor Ort, die sich dann auch kümmern und zusehen, dass die Leute weiter versorgt werden, dass es dort Sprachmittler gibt oder eben im günstigsten Fall tatsächlich Menschen, die selber Russisch sprechen.

Matthias Klaus: Wie ist das mit Flüchtlingsunterkünften? Gibt es da Barrierefreiheit oder wird sowas einfach mal eher ignoriert?

Ulrike Lessig: [lacht] Das ist eine gute Frage. Also die gefällt mir richtig, weil es war wirklich ganz am Anfang so, dass zwei ältere Damen nach Berlin kamen, und die Caritas rief mich an und meinte: "Kennst du jemand, wo sie unterkommen können?" Die eine Dame war 95 und war sehbehindert, fast gehörlos und hat halt aufgrund ihres Alters verschiedene Krankheiten gehabt und konnte auch nicht laufen. Und die haben wir dann notfallmäßig unterbringen müssen, denn  es gibt keine Unterkunft, die rollstuhlgerecht ist. Das wurde mir dann auch vom Senat für Integration gesagt: "Ja, wo sollen wir sie denn unterbringen? Die Unterkünfte sind nicht rollstuhlgerecht." Und dann habe ich so gesagt: "Na, dann sollten sie sich mal dringend drum kümmern, denn es werden noch mehr Menschen kommen, die so etwas brauchen. Und das kann ja wohl nicht das Problem sein." Und: "Ja, aber wir können die doch in den Unterkünften nicht pflegen." Und dann habe ich nur gesagt: "Schon mal was von ambulanter Pflege gehört? Dann müssen halt Pflegedienste akquiriert werden, die dann in die Unterkünfte kommen. Dann ist das so!" Also, ich meine, wo ist das Problem? Ich sehe das nicht. Das muss man halt organisieren. Und mir wurde nur gesagt: "Es gibt sowas nicht." Und das hat mich wirklich sauer gemacht, dass da schon wieder irgendwie kein Mensch dran denkt, dass natürlich auch Menschen kommen. Es kommen ja unter Umständen auch bald Kriegsverletzte. Also, ich meine, damit muss man doch rechnen. Da ist Krieg. Das ist nicht irgendwie so: Sie wollen eine Kur machen oder irgendwie so was. Das ist Krieg, das ist ernst. Und da muss man auf alle Gegebenheiten eingerichtet sein. Und ja … ach …, das macht mich richtig … ja, ich möchte lieber nicht darüber sprechen.

Matthias Klaus: Ich stelle mir Flüchten... Ich bin selbst blind. Ich stelle mir Flüchten so vor: alle rennen weg, und ich weiß nicht wohin und werde eventuell nicht mitgenommen, weil die ja alle sich um sich selber kümmern, was man ja auch verstehen kann, wenn - sagen wir mal - Bomben fallen. Also wirklich ganz schwierige Situationen oder eben in die Luftschutzräume kommen. All das.

Eine Frage an Sie beide: Haben Sie Erfahrungen mit Solidarität unter den Geflüchteten? Gibt es da so was, dass Menschen auch einfach zurückgelassen werden oder auch vergessen werden? Oder wir kümmern uns jetzt um uns selbst? Oder gibt es auch einen Zusammenhalt, dass sie sagen: "Okay, nein, natürlich nehmen wir die Leute mit."

Ulrike Lessig: In den Bussen mit den Menschen, die wir transportieren, auch aus der Ukraine, habe ich bis jetzt nicht gehört, dass irgendjemand was dagegen gehabt hätte oder irgendwie was getan hätte. Im Gegenteil. Die helfen natürlich, wo sie können, die Leute auch in die Busse zu kriegen. Am liebsten wäre mir natürlich so etwas wie ein - ich sage mal -BVG-Bus [Berliner Verkehrsbetriebe - Anmerkung der Redaktion], um möglichst viele Leute weitertransportieren zu können.

Wir suchen aktuell auch einen behindertengerechten Minibus, wo man mit einem Rollstuhl reinfahren kann. Dankenswerterweise haben wir ja von den Sozialhelden Rampen bekommen [Der Sozialhelden e. V. ist ein eingetragener, gemeinnütziger Verein mit Hauptsitz in Berlin – Anmerkung der Redaktion], und die retten eine Menge. Die retten wirklich eine Menge, weil selbst die Krankenhäuser haben Stufen. Das muss man sich mal vorstellen. Das kann man sich eigentlich ... Also, auf die Idee kommt man hier nicht! Ich war total schockiert, als die mir das Foto vom Eingang des Krankenhauses in Moldawien gezeigt haben. Da habe ich gesagt: "Bitte? Da sind drei Stufen. Wie kommen denn die Menschen da rein?" Und dann meinten die: "Gott sei Dank haben wir eure Rampen."

Reiner Delgado: Wir kriegen bisher auch keine Nachrichten von Zurückgelassenen, die sagen: "Ich sitze jetzt hier alleine und niemand kümmert sich um mich." Also, wir haben natürlich Kontakt zu den Menschen, die halt rausgekommen sind. Und da habe ich schon den Eindruck, dass es insgesamt eine sehr große Hilfsbereitschaft gibt. Man kann immer sagen: "Es gibt Sachen, die nicht gut laufen oder so." Aber wir haben uns nicht alle ein halbes Jahr auf diesen Krieg und auf diese Flüchtlingswelle eingestellt und alles schön vorbereitet, sondern das ging alles sehr schnell, und keiner hat das vorher geplant. Also, ich finde überall eine ganz große Hilfsbereitschaft, auch bei den Flüchtlingen untereinander. Also, wie gesagt, das sind eben nicht nur blinde Menschen oder Sehbehinderte, zu denen wir dann Kontakt haben, sondern eben auch sehende Angehörige oder auch Unbeteiligte, die aber den anderen dann auch helfen.

Also das heißt, es werden ganz viele nicht zurückgelassen, sondern unterstützt und mitgenommen und auch unterwegs unterstützt von den Menschen, die bei der Flucht helfen. Also, eigentlich alle, die bisher zu uns gekommen sind, sind über Polen gekommen. Da gibt es also auch eine Riesenhilfsbereitschaft. Bei den staatlichen Stellen gibt es natürlich immer auch Defizite, aber es gibt auch da einen großen Willen, was zu tun. Ich weiß auch von barrierefreien Zimmern in Berlin, aber die sind dann natürlich auch schnell ausgebucht. Da dann eben weiteren Platz zu schaffen, das ist auch nicht so einfach. Also gerade in so einer Stadt, wo eben die allermeisten Geflüchteten im Moment ankommen.

Ich finde das super beeindruckend, was ich jetzt in diesen vier Wochen an Menschen kennengelernt habe, die einfach helfen und überhaupt nicht danach fragen, was ihnen das bringt oder ob ihnen das jetzt langsam mal zu viel wird oder zu viel kostet oder so.

Matthias Klaus: Das sind in jedem Fall gute Nachrichten oder auch ermutigende Nachrichten. Wenn Sie dann konkret schauen, Sie haben jetzt Menschen hergebracht, wohin kommen die dann im Einzelfall? Sie kommen in die Bildungseinrichtungen, aber sie brauchen ja eventuell Hilfe. Was brauchen sie denn am dringendsten?

Reiner Delgado: Ich glaube, das ist einfach Unterstützung im Alltag. Wenn man jetzt blind ist und irgendwo hinkommt oder umgekehrt, wenn man sehend ist und irgendwo hinkommt, dann sieht man ja, wo was ist, wo eine Bushaltestelle ist, was es im Supermarkt an Dingen gibt und kann sich dann da die Getränke raussuchen oder die Molkereiprodukte oder so, und jetzt kann ich sagen, als blinder Mensch in Deutschland habe ich meine Strategien, wie ich mich orientiere und Sachen herausfinde. Und ich kann vor allem auch fragen, ich kann mich überall durchfragen und um Hilfe bitten. Und wenn ich weder das Sehen habe noch die Sprachkenntnisse, die ich bräuchte, dann fällt da ganz vieles weg. Und deswegen brauchen gerade die, die eben nicht mit Angehörigen hier sind, einfach Menschen, die ihnen konkret im Alltag helfen, die mit ihnen einkaufen gehen, die mit ihnen zum Amt gehen, ihnen Sachen zeigen, etwa wo es einen Park zum Spazierengehen gibt oder irgendwelche Gruppen, wo sie auch Menschen kennenlernen können und so weiter. Also die persönliche Unterstützung ist eigentlich das Hauptding.

Matthias Klaus: Frau Lessig, wie ist es in Ihren Projekten? Was würden Sie sagen? Was brauchen die Menschen jetzt hier am meisten, was sie nicht haben?

Ulrike Lessig: Na ja, wie Herr Delgado schon sagte: "Menschen, die sich dann auch kümmern." Ich meine, die deutsche Verwaltung ist schon einzigartig. Und selbst wenn all die Merkblätter irgendwie übersetzt sind, auf Ukrainisch oder Russisch, ist es trotzdem ein ziemlich verwirrendes System. Also jemanden, wie bei allen Geflüchteten eigentlich jemand, der ihnen sagt: "So, jetzt musst du das machen, jetzt das, jetzt das." Und was ich wichtig finde, vielleicht erst mal einen Platz, wo sie zur Ruhe kommen können. Die sind viele, viele Stunden unterwegs. Die mussten alles zurücklassen. Ich meine, das gilt für alle, die aus der Ukraine flüchten. Die haben ihr komplettes Leben und alles rundherum gerade verlassen und auch vielfach Freunde, Familie, und die Männer mussten dableiben. Die sind komplett mit ihren paar Taschen … Wenn überhaupt, kommen sie hier an und haben ihr Leben zurücklassen müssen. Und einfach mal kurz zur Ruhe kommen und kucken, dass sie sich wohlfühlen und ein Zimmer haben. Und was ich wichtig finde: Eine Tür zum Zumachen. Um einfach mal runterzukommen und zu sagen: "Okay, jetzt bin ich hier, jetzt muss ich kucken, wie ich hier klarkomme." Und dann eben jemanden zu haben, der sagt: "Pass auf! Wir machen das jetzt so und so und so, denn das sind die Wege. Und hier ist noch mal alles in deiner Sprache zum Nachlesen." Das finde ich wichtig.

Matthias Klaus: Noch eine Frage zum Schluss an Sie beide: Wenn es Hilfsbereitschaft gibt, vielleicht auch bei den Menschen, die hier zuhören, was würde ihnen mehr helfen? Geld oder Menschen, die ihre Zeit anbieten, sozusagen?

Ulrike Lessig: Beides. Ich nehme alles. Ich nehme gerne das Geld, um noch mehr Menschen helfen zu können und dann auch tatsächlich individuell Dinge besorgen zu können, die sie wirklich brauchen.

Also gerade bei Rollstuhlfahrern nützt es wenig, einfach irgendwie Rollstuhl XY hinzuschicken, wenn die Person sehr dünn, sehr dick, sehr groß, sehr klein ist, sondern dann auch die adäquaten individuellen Dinge kaufen zu können und auch gerne Zeit, um Ihnen unser System erklären zu können und auch erklären zu können, wo Sie was finden. Und bitte nicht irgendwie die Menschen in irgendeine winzige Ortschaft verschiffen, wo es keine Möglichkeiten gibt, dass sie selber etwas einkaufen können oder selber irgendwie auch etwas unternehmen können, wo nur alle drei Stunden ein Bus fährt, der dann nicht behindertengerecht ist. Also so was möglichst nicht, sondern möglichst auch rundherum irgendwie die Möglichkeit, das Leben selber in die Hand nehmen zu können.

Matthias Klaus: Herr Delgado, können Sie da noch was ergänzen? Was brauchen Sie für Ihre Hilfsaktionen von den Menschen, die eventuell bereit sind zu helfen oder zu spenden?

Reiner Delgado: Zeit fände ich ganz wichtig. Also, dass man sagt: "Ich kann einmal in der Woche zwei Stunden mit einem blinden Menschen einkaufen gehen oder spazieren oder was auch immer." Also so was bräuchten wir im Moment einfach, um das Leuten vor Ort quasi anbieten zu können, dass es Menschen gibt, die ihnen helfen.

Matthias Klaus: Das war schon fast "Echt behindert!" für heute. Bei mir im Podcast waren Ulrike Lessig von "Be an Angel e. V. " und Reiner Delgado vom DBSV [Deutscher Blinden- und Sehbehindertenverband e.V.] zur Situation geflüchteter Menschen aus der Ukraine mit Behinderung. Die Möglichkeiten, wo man spenden kann, wo man Hilfe anbieten kann, wenn man möchte, werden wir in den Shownotes verlinken. Ich danke Ihnen beiden, dass Sie da waren und dass Sie Zeit für uns hatten.

Reiner Delgado: Ja. Danke für Ihr Interesse.

Ulrike Lessig: Genau! Danke.

Matthias Klaus: Das war "Echt behindert!" Mein Name ist Matthias Klaus.

Sprecher: Mehr folgen unter dw.com/echt behindert.

Wer spenden möchte oder Hilfe anbieten, kann sich wenden an DBSV und Be an Angel.

Einen Überblick auch zu anderen Hilfsorganisationen und Projekten gibt es bei der Aktion Mensch hier.

Hinweis der Redaktion: Dieses Transkript wurde unter Nutzung einer automatisierten Spracherkennungs-Software erstellt. Danach wurde es auf offensichtliche Fehler hin redaktionell bearbeitet. Der Text gibt das gesprochene Wort wieder, erfüllt aber nicht unsere Ansprüche an ein umfassend redigiertes Interview. Wir danken unseren Leserinnen und Lesern für das Verständnis.