Auch der Bundespräsident sagt Völkermord
23. April 2015
Es ist das Wort, auf das die zuhörende Gemeinde, und auch die Medien warten. Bundespräsident Joachim Gauck spricht beim Gedenken an das Schicksal der bis zu 1,5 Millionen Armeniern, die vor 100 Jahren im Osmanischen Reich ermordet, vernichtet wurden, von Völkermord. Im voll besetzten Berliner Dom ist es gespannt - aufgeregt still.
Gaucks Rede schließt sich an einen ökumenischen Gottesdienst an, der in dieser Form selten ist, in seinen Farben und Traditionen. Die Spitzen der Protestanten, der Katholiken, der orthodoxen Christen in Deutschland. Ratsvorsitzender, Kardinal, Erzbischöfe verschiedener Kirchen, armenische Geistliche mit ihren spitzen, oft mit dem Berg Ararat verglichenen Kopfbedeckungen, dunkle Äthiopier mit lila Mützen, Griechen, Syrer, Kopten mit festlich schwarzen Hüten und großen Brustkreuzen, auch eine methodistische Bischöfin, die Dompredigerin.
Gemeinsam erinnern sie an den Völkermord, dem vom 24. April 1915 an viele hunderttausend Menschen zum Opfer fielen, ganz überwiegend orthodoxe Christen. Armenier, Aramäer, Assyrer, Pontos-Griechen. Was sich im Jahr 2015 alles so sehr nach ganz alter Zeit anhört, war vor 100 Jahren lebendige ethnische und religiöse Vielfalt.
Und dann… "Ein massenhaftes Morden", sagt Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz. "Ein Verbrechen durch das jungtürkische Regime", der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Heinrich Bedford-Strohm. "Wie viele Kriege müssen wir noch ertragen, wie lange werden wir noch unterdrückt", singt der orthodoxe Chor zu schwermütigem Ton.
Verhuschte politische Debatte
Der Gottesdienst war lange geplant und doch erst vor zehn Tagen offiziell angekündigt. So brachten die Kirchen Dynamik in eine quälend lange und irgendwie verhuschte politische Debatte. Der Auftritt des Bundespräsidenten sorgte für Zündstoff.
Das Bundespräsidialamt telefonierte vor einigen Tagen mit dem Auswärtigen Amt, wohl auch mit dem Bundeskanzleramt. Und plötzlich durften auch die Koalitionsfraktionen an einem Antrag feilen, in dem die Gräueltaten des Jahres 1915 als "Völkermord" bezeichnet werden. Er steht neben weiteren Anträgen im Bundestag zur Debatte, gut zwölf Stunden nach dem Gottesdienst in der evangelischen Hauptkirche Berlins.
Und die Fraktionen von Union und SPD verwenden fast wortwörtlich jenen Satz, den auch Bundespräsident Gauck formuliert: "Das Schicksal der Armenier steht beispielhaft für die Geschichte der Massenvernichtungen, der ethnischen Säuberungen, der Vertreibungen, ja der Völkermorde, von der das 20. Jahrhundert auf so schreckliche Weise gezeichnet ist." Der Begriff steht irgendwo im Text. Aber immerhin - anders als im Jahr 2005 - nicht mehr nur in der Begründung. Doch dem Drängen der Oppositionsfraktionen, deren Anträge schon im Titel den Begriff "Völkermord" tragen, geben sie nicht nach.
Nachdenkliche Abgeordnete
Der Begriff ist geladen in diesen April-Tagen 2015. Als ihn Papst Franziskus vor zwei Wochen verwendete, polterte der türkische Präsident Erdogan und sprach von "Unsinn". Und die türkische Regierung rief ihren Botschafter aus dem Vatikan zurück. Sie ruft manche Botschafter zurück in diesen Tagen, zuletzt, an diesem Donnerstag, den Chef-Diplomaten aus der österreichischen Hauptstadt Wien.
Das ist die Kontroverse: die Europäische Union und dutzende Länder auf der einen, die Türkei auf der anderen Seite. Auch den mehr als 40 Bundestagsabgeordneten im Dom, darunter mehrere Vizepräsidenten und die Fraktionschefs Volker Kauder (CDU/CSU), Thomas Oppermann (SPD) und Katrin Göring-Eckardt (Grüne), wird die Kontroverse in dieser Stunde durch den Kopf gehen.
Aber trotz der Benennung des massenhaften Mordens, der Vernichtung, des Völkermords: in den Reden während und nach dem Gottesdienst stehen auch Nachdenklichkeit und die Hoffnung auf Versöhnung im hohen Kirchenraum, auch der entsprechende Appell an die Türkei.
"Wer Schuld nicht leugnet..."
Gauck verwendet in seiner 17-minütigen Rede den Begriff Völkermord ein einziges Mal. Es gehe doch nicht um eine Bezeichnung, sondern um das Erkennen und Betrauern der "planvollen Vernichtung eines Volkes". Dann bezeichnet er das, was sich in der "jungtürkischen Ideologie" aus einer Einheits- und Reinheitsideologie entwickelt habe, als "genozidale Dynamik, der das armenische Volk zum Opfer fiel".
Dabei gelte: "Wenn wir erinnern, setzen wir niemanden, der heute lebt, auf die Anklagebank." Aber die Nachfahren der Opfer hätten zu Recht die Erwartung auf die Anerkennung historischer Tatsachen "und damit auch einer historischen Schuld" der heute Lebenden. Das gelte auch für die deutsche Mitverantwortung am Sterben der Armenier. Nur wer Schuld nicht leugne, könne sich von ihr befreien. "Ohne Wahrheit keine Versöhnung", so Gauck.
Und niemals dürfe ein Gewaltherrscher oder jemand, der ethnische Säuberungen für legitim halte, erwarten, dass man seine Taten ignoriere. Manches, was Gauck da zu 1915 sagt, klingt leider auch nach 2015. Ein einziges Mal gibt es Beifall, lange anhaltenden Beifall an diesem Abend. Nach Gaucks Rede.
Kardinal Marx zitiert Papst Franziskus. "Wenn die Erinnerung schwindet, hält das Böse die Wunde weiter offen." Er erwähnt auch das gegenwärtige Leid von Minderheiten im Mittleren Osten. "Eines der Wüstenlager, in die damals die Armenier verbracht wurden, lag bei Mossul..." Dem Mossul der Kriegsberichte und Leidensgeschichten 2015.
Kerzen und Plakate
"Öffne die Herzen der Menschen, die das Geschehene leugnen, und mach alle bereit zur Versöhnung", heißt es in den Bitt-Gebeten gegen Ende. "Das war ein würdiges, wichtiges Gedenken", sagt Benjamin Bilici beim Weg aus dem Dom. Der 47-Jährige ist mit einigen anderen Armeniern, alle im Sonntagsstaat, eigens aus Düsseldorf angereist. Auch Bilici ist froh, dass Gauck und die Geistlichen das Grauen von damals einen Völkermord nennen. "Das war wichtig zur Verarbeitung des Traumas", meint er. "Damit das Thema von der Agenda verschwindet und wir uns anderen Aufgaben widmen können."
Draußen vor dem Gotteshaus kommen, beobachtet von einigen Polizisten, Hunderte zusammen, zumeist Armenier. Nun werden Kerzen entzündet im letzten Tageslicht. "Sag die Wahrheit" und "100 Jahre Leugnung - Völkermord" steht auf großen Bannern. Die Menschen setzen sich in Bewegung, langsam nur. Ein stiller Marsch des Gedenkens durch den kalten Berliner Abend zum Brandenburger Tor.