Atom-Ausstieg ist nicht der SPD-"Markenkern"
3. April 2011DEUTSCHE WELLE: Herr Gabriel, kurzer Rückblick auf die bisherigen Landtagswahlen des Jahres aus SPD-Sicht: in Hamburg ein grandioser Erfolg, in Sachsen-Anhalt ein vielleicht enttäuschendes, aber erträgliches Ergebnis, in Rheinland-Pfalz haben Sie die absolute Mehrheit verspielt, in Baden-Württemberg wurden die Sozialdemokraten drittstärkste Kraft. Aber - und das ist das erstaunliche - Sie mussten zufrieden sein, schließlich kann die SPD in allen vier Bundesländern regieren. Gefühlte Siege oder doch Niederlage?
Sigmar Gabriel: Man ist garantiert nicht zufrieden, wenn man nicht jede Wahl gewinnt. Das wäre eine komische Partei, wenn wir uns darüber freuen würden, wenn wir in Wahlen nicht überall gut abschneiden. Wir haben die Fortsetzung der Großen Koalition in Sachsen-Anhalt, da hätten wir uns gewünscht, dass wir vor die Linkspartei kommen, dass ist nicht gelungen. Und wir hätten uns natürlich gewünscht, dass wir ein Prozent mehr gehabt hätten in Baden-Württemberg, dann hätte SPD-Spitzenkandidat Nils Schmid vorn gelegen. Aber die beiden Wahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg, glaube ich, waren eine Volksabstimmung über die Atomenergie und nicht so sehr ganz normale Landtagswahlen. Da haben Menschen die Partei gewählt, von der sie gedacht haben, dass sei das deutlichste Signal für den Atom-Ausstieg - und das sind in Deutschland die Grünen.
Andererseits kämpfen auch Sie seit vielen Jahren gegen die Atomenergie. Kann die SPD das doch nicht für sich so reklamieren, dass sie zwei, drei Prozent mehr gewinnt, um die Grünen wenigstens zu distanzieren?
Es gibt so etwas wie einen Markenkern von Parteien - das ist bei der Sozialdemokratie das Thema soziale Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Zusammenhang mit sozialem Zusammenhalt. Und bei den Grünen ist es das Thema Anti-Atom-Politik, denn die sind gegen die Atomenergie gegründet worden. Wir sind lange für den Atom-Ausstieg, aber es ist in den Augen der Wählerinnen und Wähler eben nicht unser Markenkern. Deswegen glaube ich, darf man auch nicht allzu traurig zu sein, dass die Wahlen so gelaufen sind. Für Deutschland ist es ein hervorragendes Ergebnis, es gibt kein Zurück mehr, denn wir werden aussteigen, das ist das Ergebnis dieser beiden Landtagswahlen - und als ehemaliger Umweltminister freu ich mich darüber ganz besonders.
Sie halten den Atom-Ausstieg für unumkehrbar?
Ich glaube, dass Kanzlerin Angela Merkel jetzt nicht mehr taktieren kann. Sie wird gar nicht mehr anders können, als zumindest mal aus den sieben, acht alten Reaktoren auszusteigen. Ob sie dann eine kluge Politik macht, die möglichst schnell auch die anderen Atomkraftwerke abschaltet, das weiß ich nicht. Das Problem bei Angela Merkel ist, dass man nicht so richtig sicher ist, wofür sie morgen steht. Aber ich glaube, der Zug ist nicht mehr aufzuhalten. Und spätestens mit der nächsten Bundestagswahl wird es eine deutliche Mehrheit geben gegen die Politik von CDU und FDP, da bin ich ganz sicher.
Sie sind fest davon überzeugt, dass Deutschland aus der Atomkraft aussteigt - in zehn, fünfzehn Jahren spätestens der letzte Atommeiler abgeschaltet ist. Verwundert es Sie eigentlich, dass rund um uns herum in Europa fast niemand eine vergleichbare Diskussion führt?
Na das stimmt ja nicht, die Hälfte der europäischen Mitgliedsstaaten nutzt die Atomenergie nicht oder will auch aussteigen. Die anderen allerdings - da haben Sie Recht - vor allem Staaten in Osteuropa und Frankreich halten an Ausbauzielen fest. Ich glaube trotzdem, dass das nichts wird. Denn die ganzen Versprechungen zum Neubau von Atomkraftwerken, die wir seit Jahren kennen, die realisieren sich weder in den USA noch in Großbritannien noch in Frankreich noch in Osteuropa. Und zwar, weil die Dinger inzwischen einfach zu teuer sind und weil es ein völlig ungelöstes Problem gibt - nämlich wohin mit dem Nuklearmüll? Das ist übrigens etwas, was wir jetzt in Deutschland auch klären müssen.
In den glorreichen Zeiten von Willy Brandt und Helmut Schmidt, also in den 1970er Jahren, hat die SPD sehr, sehr viele Stimmen gewonnen, weil sie es verstand, einerseits die Schutzmacht der "kleinen Leute" - wie man damals sagte - zu sein, aber gleichzeitig auch jedem den sozialen Aufstieg versprach durch Bildung. Ist das eigentlich ein Rezept, mit dem man auch heute punkten kann?
Es geht jedenfalls für unser Land immer noch darum, dass wir Aufstieg durch Bildung ermöglichen müssen. 70.000 junge Leute gehen jedes Jahr auf den Arbeitsmarkt, ohne eine vernünftige Schulausbildung zu haben, gleichzeitig klagen wir über Fachkräftemangel. Frauen, die gut ausgebildet sind, können nicht Karriere machen, sich beruflich entwickeln, weil Familie und Kinder und Beruf bei uns immer noch schlecht vereinbar sind. Und gut qualifizierte ältere Arbeitnehmer werden viel zu früh in die Arbeitslosigkeit geschickt oder in die Frühverrentung. Es geht auch schon darum, dass wir in Deutschland dafür sorgen müssen, dass Aufstieg durch Leistung und Arbeit und Bildung möglich wird. Das geht aber nur, wenn gleichzeitig diejenigen, denen es in diesem Land besser und besonders gut geht, auch dazu einen Beitrag leisten. Ich bin schon ein bisschen entsetzt darüber, wie stark die Entsolidarisierung vorangeschritten ist zum Beispiel im Gesundheitswesen. Es kann doch nicht sein, dass nur die, die durchschnittliche Einkommen haben oder wenig verdienen, für die Solidarität zwischen Gesunden und Kranken zuständig sind. Und alle, die besser verdienen, sind nur für sich selber zuständig. Das sind Dinge, die in diesem Land verändert werden müssen. Fortschritt muss wieder Fortschritt für alle Menschen in Deutschland werden und nicht nur für eine kleine Gruppe.
In den 70er Jahren waren auch die Sozialdemokraten geprägt von dem Glauben, Fortschritt sei auch durch Technik, durch Technologie möglich. Ist denn heute eine gewisse Technikfeindlichkeit ein Markenzeichen der SPD?
Ich glaube, dass man anders als in den 70er und 60er Jahren keine Fortschrittsgläubigkeit mehr vorfindet, übrigens in der ganzen Gesellschaft nicht. Die Atomtechnologie ist ja gerade entstanden aus dieser Fortschrittsgläubigkeit, auch die Gentechnik birgt große Risiken. Insofern macht es schon Sinn, die Risiken zu bewerten. Nur ohne technischen Fortschritt werden wir weder unseren Wohlstand erhalten noch werden wir die Probleme der Gesellschaft lösen. Wir sind heute sechseinhalb Milliarden Menschen auf der Erde. In 50 Jahren werden wir über neun Milliarden Menschen sein, die wollen alle in Industriegesellschaften leben. Wie sollen wir das machen, ohne dass wir technologisch sparsam mit Rohstoffen umgehen, auf erneuerbare Rohstoffe uns konzentrieren - und das geht nicht ohne technischen Fortschritt. Die Probleme der Industriegesellschaft werden wir nicht mit den Methoden der Agrargesellschaft lösen, sondern immer nur mit den Instrumenten der Industriegesellschaft - und die basieren auf Qualifikation, auf Bildung, auf Forschung und Entwicklung und Technologie.
Das Interview führte Alexander Kudascheff
Redaktion: Christian Walz