Die Ukraine hat recht, Russland die Kontrolle
27. November 2018Ein russisch-ukrainischer Zwischenfall, der internationale Gerichtshöfe noch lange beschäftigen dürfte: Am Sonntag verweigerte die russische Küstenwache den Patrouillenbooten der ukrainischen Marine die Durchfahrt in der Meerenge von Kertsch und rammte eines der Schiffe. Danach beschossen sie die Schiffe und setzen die Bordinsassen fest.
Die russische Seite spricht von einer Grenzverletzung, die Ukrainer werfen Moskau "Aggression" vor. Beide Seiten behaupten, die jeweils andere hätte die internationale Seerechtskonvention gebrochen. Wer hat Recht?
Wie sieht die seerechtliche Lage aus?
Russland und die Ukraine haben 2003 ein Abkommen über das gemeinsam genutzte Territorialgewässer abgeschlossen. Dieser Vertrag sichert die freie Nutzung des Asowschen Meeres und der Straße von Kertsch sowohl für russische als auch für ukrainische Schiffe. "Das Abkommen ist noch gültig, Russland hat nie erklärt, aus dem Vertrag aussteigen zu wollen", sagte im DW-Interview Michail Wojtenko, Chefredakteur des russischen Fachmagazins "Maritime Bulletin". Auch nachdem Russland die Halbinsel Krim seit März 2014 besetzt hält, wollte keine Seite offiziell an dem Abkommen rütteln. Die Ukraine hätte also das Recht, ihre Kriegsschiffe durch die Straße von Kertsch fahren zu lassen, so Wojtenko.
Dabei sei der bilaterale Vertrag zwischen Russland und der Ukraine eher zweitrangig, erklärte auf DW-Anfrage Daniel-Erasmus Khan von der Universität der Bundeswehr München. Größeres Gewicht solle man einem anderen Abkommen einräumen. "Auf dieses Abkommen zwischen der Ukraine und Russland kommt es ehrlich gesagt überhaupt nicht an, denn entscheidend sind hier die Regeln der internationalen Seerechtskonvention von 1982."
Sowohl Russland als auch die Ukraine sind dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen beigetreten. Es soll unter anderem sicherstellen, dass Schiffe Meerengen frei passieren können - ohne die Zustimmung der Anliegerstaaten. "Da darf die ukrainische Seite ohne Weiteres das Recht auf Transit ausüben, auch ohne Erlaubnis Russlands und ohne andere Voraussetzungen", sagt Khan.
Russlands Position: Verletzung der Grenze
Verglichen mit der Situation im Donbass erlaubt sich Moskau auf See aggressivere Aktionen, sagte der ukrainische Rechtsexperte Wasilij Filiptschuk. Eine Erklärung dafür sieht der ehemalige Diplomat in einem "Rechtsvakuum" seitens der internationalen Gemeinschaft. Anders als bei der Ostukraine würden hinsichtlich der Lage auf der Krim "kaum UN-Resolutionen verabschiedet". Das lasse Russland freie Hand, so Filiptschuk. Dass der Konflikt um die Straße von Kertsch nun auch im UN-Sicherheitsrat zum Thema wird, begrüßte er.
Der Status der Krim habe eine wichtige Bedeutung für Moskaus Verteidigungsstrategie, glaubt Michail Wojtenko, weil es die Wasserfläche vor der Krim seit 2014 als sein Hoheitsgebiet erachte: "Doch für die Ukraine und für die internationale Gemeinschaft gehören die Gewässer zusammen mit der Krim immer noch der Ukraine."
Insofern sei Russlands Behauptung, die ukrainischen Schiffe hätten sich in ihrem Hoheitsgebiet befunden, ohnehin nur die halbe, die einseitige Wahrheit, sagt Khan: "Sie waren dort, wenn man davon ausgehen würde, dass die Krim zu Russland gehört". Allerdings, meint Khan, spiele der Status der Krim genau in diesem Konflikt "ausnahmsweise keine Rolle" - wegen des Seerechtsübereinkommens nämlich und des "unveräußerlichen Rechts der Durchfahrt".
Experten: vor Gericht würde die Ukraine gewinnen
Bessere Karten, sein Recht durchzusetzen, hätte die Ukraine wohl, wenn der Streit vor internationalen Gerichten landen würde, sind sich die Gesprächspartner der DW einig. "Eine Rechtfertigung völkerrechtlicher Natur gibt es dafür (für die russische Herangehensweise, d. Red.) nicht", sagt Daniel-Erasmus Khan.
Auch der Fachjournalist Wojtenko ist sich sicher: "Die Ukraine hat gegen keine Gesetze verstoßen, im Unterschied zu Russland. Egal, welcher Gerichtshof sich der Sache annimmt, er würde in diesem Fall die ukrainischen Aktivitäten als rechtmäßig anerkennen." Vor Gericht, nimmt er an, würde sich Moskau fragen lassen müssen, wieso die russische Küstenwache einen zivilen Tanker benutzt hat, um das ukrainische Boot zu stoppen und wieso man die ukrainischen Kriegsschiffe nicht gleich in russischem, sondern erst in internationalem Gewässer beschossen hat.
Was, wenn die Seerechtskonvention nicht mehr funktioniert
Die Seerechtskonvention in Frage zu stellen, meint Universitätsprofessor Khan, könne eigentlich gar nicht im Interesse Russlands sein. Schließlich profitiert das Land selbst von der internationalen Regelung. Der Experte zeichnet ein düsteres Bild einer internationalen Eskalation, sollte Russland die Seerechtskonvention nicht mehr respektieren. Die Straße von Kertsch sei nichts anderes als ein "kleiner Bosporus". Wenn aber der echte Bosporus gesperrt würde, wäre die russische Schwarzmeerflotte "handlungsunfähig", so Khan. "Wenn Russland da den Druck aufrechterhält, könnte die NATO versucht sein, ähnliche Maßnahmen im Bosporus zu ergreifen, was Russland natürlich sehr schwer treffen würde."