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Vom Aussterben bedroht, aber weitgehend ignoriert?

Ajit Niranjan ts
22. Mai 2019

Experten sagen, dass der Artenverlust und der Zusammenbruch des Öko-Systems die Menschheit ebenso schädigt wie der Klimawandel. Aber hört eigentlich überhaupt jemand zu?

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Vermehrtes Aufkommen von Polarbären in der Arktis
Bild: picture-alliance/P. Goldstein

An dem Tag, an dem Wissenschaftler davor warnten, dass eine Million Arten vom Aussterben bedroht sind, und nichts anderes als "transformative" Maßnahmen die Zerstörung unseres Ökosystems und bisherigen Lebensstils aufhalten werden, legten sich britische Journalisten so richtig ins Zeug. Meghan Markle, die Herzogin von Sussex, hatte gerade ein Baby zur Welt gebracht.

Im Kampf um die öffentliche Aufmerksamkeit war das königliche Baby König. Das Baby verdrängte den Bericht des Weltbiodiversitätsrats IPBES (Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services) am nächsten Tag mit zwei Ausnahmen von allen Titelseiten britischer Zeitungen. Weltweit waren Google-Suchen nach Prinz Harry und Meghan Markle am Tag der Veröffentlichung des Berichts im Vergleich zu Biodiversität 14 bzw. 31 Mal stärker nachgefragt.

"Wo sind die Eilmeldungen?", fragte die 16-jährige schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg am nächsten Abend in einem Tweet und verwies auf die mangelnde Berichterstattung. "Die zusätzlichen Nachrichtensendungen? Die Titelseiten? Wo sind die Notfallsitzungen? Die Krisengipfel? Was könnte wichtiger sein?"

Der IPBES-Bericht, die bislang umfassendste Studie über das Leben auf der Erde, zeigt die große Bedrohung durch den Verlust der biologischen Vielfalt: Eine Million Arten sind vom Aussterben bedroht; der Boden, die Wälder, Ozeane und Flüsse, auf die wir angewiesen sind, sind vom Menschen verwüstet worden; und der Zusammenbruch des Klimas kann nur durch eine besseren Schutz der Umwelt verhindert werden. Die am 6. Mai veröffentlichte Zusammenfassung für politische Entscheidungsträger wurde als ein wichtiger Meilenstein gefeiert.

Doch angesichts einer sich beschleunigenden Krise aussterbender Arten verzweifelten die Umweltschützer daran, dass die Medien die bisher bedeutendsten Alarmglocken überhören oder schlichtweg ignorieren.

Spanien Waldbrand in der Nähe des Donana National Park
Wissenschaftler warnen vor "beispielloser" menschengemachter Zerstörung Bild: picture-alliance/AP Photo/A. Diaz

Trotzdem sind die Menschen hinter dem Bericht vorsichtig optimistisch.

"Ich glaube wirklich, dass wir zum ersten Mal ein globales Bewusstsein ausgelöst haben, und das sage ich nicht leichtfertig", sagte Anne Larigauderie, IPBES-Exekutivsekretärin. Sie habe kürzlich Graffiti gesehen, die vor einem "sechsten Massensterben" im Vorort von Paris warnten, in dem sie lebt. Wissenschaftler sagen, dass es bereits fünf frühere Massensterben auf der Erde gegeben hat.

"Wir reden schon seit mehreren Jahrzehnten [über Artenvielfalt] und ich spüre zum ersten Mal, dass sich etwas bewegt."

Laut IPBES wurden mehr als 20.000 Artikel in insgesamt 45 Sprachen über den Bericht geschrieben. Es sei schwierig, die genaue Präsenz auf Fernsehbildschirmen und Radiowellen zu bestimmen, sagte Patrick Tonissen, der im Kommunikationsteam von IPBES arbeitet. Der Bericht führte jedoch auch nationale Nachrichtenbulletins an, einschließlich einer BBC-Nachrichtensendung.

Lokale und nationale Verwaltungen zitierten den Bericht und riefen Klima-Notfälle aus. IPBES-Vertreter trafen sich Anfang dieses Monats mit Umweltministern der G7-Mitgliedstaaten, um eine Charta der biologischen Vielfalt zu unterzeichnen. Die Minister sollen am 22. Mai, dem internationalen Tag der Vereinten Nationen für biologische Vielfalt, vor dem US-Kongress aussagen. Myanmar stimmte nach Aussagen von lokalen Medienberichten kurz nach Veröffentlichung des Berichts dafür, das 133. Mitglied von IPBES zu werden.

"Ich würde nicht sagen, dass das Echo perfekt oder in irgendeiner Weise ideal war", sagte Tonissen. "Aber es war ein großer Fortschritt bei der Sensibilisierung für die Biodiversität."

Indonesien Denpasar Orang-Utan
Orang-Utans gehören zu den bedrohten ArtenBild: picture-alliance/NurPhoto/J. Christo

Menschen dazu bringen, sich zu kümmern

Wenn es um die Natur geht, ist der Kampf um Aufmerksamkeit ein harter Kampf.

Eine dynamische, einfache und dringliche Sprache half, mit Menschen zu resonieren, sagte Joyce Msuya, Vize-Direktorin des UN-Umweltprogramms. Dadurch gelang es, den Bericht in einem wettbewerbsorientierten Nachrichtenzyklus zu platzieren. "Ich war [auch] einer dieser Leute, die alle zwei Minuten im Smartphone nach Nachrichten über das königliche Baby schauten", fügte sie hinzu, "ich spürte die Aufregung."

Aber Versuche, die Naturschutzfrage in das öffentliche Bewusstsein zu rücken, seien bisher allerdings ins Stocken geraten.

"Die Menschen kümmern sich um den Verlust der biologischen Vielfalt, sehen sich aber mit Hindernissen konfrontiert, um sich damit wirklich auseinanderzusetzen", sagte Kathryn Williams, Umweltpsychologin an der University of Melbourne. Das liege daran, dass wir Pflanzen, Tiere und Orte, die wir lieben, in den Worten "Biodiversität" und "Arten" nicht wiedererkennen. Das Ausmaß des Aussterbens und Verlustes könne sich so überwältigend anfühlen, dass wir uns emotional distanzierten; und auf individueller Ebene wüssten wir schlicht nicht, was wir dagegen tun können.

Mehr als beim Klima haben Wissenschaftler und Journalisten damit gerungen, wie sie die Tragweite von Natur vermitteln sollten. Um eine bessere Verbindung zu den Lesern herzustellen, hat die Zeitung britische Zeitung The Guardian letzte Woche ihre Richtlinien aktualisiert, um das englische Wort "wildlife" dem Begriff der "biodiversity" vorzuziehen. Über Schäden an der biologischen Vielfalt wird in den Medien bis zu achtmal weniger berichtet als über den Klimawandel, fanden kanadische Forscher im vergangenen Jahr heraus.

Der Grund? Der beispiellose Abbau der Natur, der sich unauffällig beschleunigt hat, ist isoliert betrachtet weniger dramatisch als extreme Wetterereignisse wie Sturzfluten und Waldbrände , die durch die globale Erwärmung hervorgerufen werden. Auch der Einfluss auf den Menschen ist nicht zu erfassen. Ein obskurer Regenwurm kann Teil eines Ökosystems sein , das den Boden fruchtbar hält und hilft, Nahrung auf unseren Teller zu bringen. Aber sein Tod rührt die Herzen selten so wie ein Eisbär auf schmelzendem Eis.

Das hat dazu geführt, dass sich die Gespräche über Biodiversität auf charismatische Säugetiere wie Orang-Utans und Elefanten konzentrieren, auf Kosten von Pilzen und Bakterien, deren Nutzen weniger sichtbar ist.

Die kanadischen Forscher beobachteten auch eine 10- bis 15-jährige Verzögerung zwischen der Gründung des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) und einem Anstieg des Medieninteresses am Klimawandel. Das IPBES, das drei Jahre und 2,4 Millionen US-Dollar für die Erstellung seiner globalen Bewertung der biologischen Vielfalt aufgewendet hat, wurde 2012 gegründet.

"Wenn man sich die Geschichte ansieht, denke ich, dass dies das erste Mal überhaupt ist, dass ein Biodiversitäts- oder Naturbericht das Thema der wichtigsten Schlagzeilen weltweit war", sagte Msuya. "Wir hätten uns keinen besseren Zeitpunkt wünschen können, um über die biologische Vielfalt zu sprechen."

Bildergalerie Brasilien Dammbruch Brumadinho
Ureinwohner leiden am meisten unter dem Verlust der ArtenBild: Reuters/A. Machado

Wessen Problem?

Das zunehmende Bewusstsein für die biologische Vielfalt könnte zum Teil auf die Lehren aus der Kommunikation über den Klimawandel zurückgeführt werden. Die Betonung der Abhängigkeit der Menschheit von der Natur in Bezug auf Nahrung, Wasser, Energie und Medizin im Pressebriefing des Berichts und der Auswirkungen des Verlusts der biologischen Vielfalt auf den Menschen weckte das Interesse der Journalisten. Das Forschungsfeld der Ökosystemleistungen, auf das sich der Bericht stützte, gibt dem ganzen ein Preisschild.

Dieser Rahmen wurde von Umweltschützern in Frage gestellt, die sagen, er ignoriere den im Bericht hervorgehobenen inneren Wert der Natur.

Kieran Suckling, Geschäftsführer des Center for Biological Diversity, sagte in einem Tweet: "Es gibt keinen Grund, keine authentische emotionale Motivation, sich einem "größeren" Problem [als dem Massensterben] zuzuwenden. Die meisten Menschen können sich die Tragödie dessen ansehen, was wir mit uns selbst und anderen Erdbewohnern machen, ohne sofort ein Problem für wichtiger erklären zu müssen."

Die schockierenderen Zahlen des Berichts dominierten die Schlagzeilen, sagte IPBES, wobei nur ein kleiner Teil der Artikel den immateriellen Nutzen der Biodiversität behandelte. Damit sich die Menschen mit der Biodiversität beschäftigen können, müsse man zeigen, wie sie sie beeinflusst, sagte Williams, der Umweltpsychologe. "Eines der großen Dinge an dem Bericht ist, dass er die verschiedenen Arten, wie wir die Natur wertschätzen, hervorhebt. Nicht nur greifbare Wege wie Essen und saubere Luft, sondern auch die Art und Weise, wie wir uns auf einer emotionaleren Ebene verhalten."

Die schleppende Reaktion der Regierungen hat Druck auf Wissenschaftler und Journalisten ausgeübt, neue Wege zu finden, um die Dringlichkeit des Verlusts der biologischen Vielfalt zu kommunizieren.

Am Morgen nach der Veröffentlichung der globalen Bewertung durch IPBES und der Geburt von Meghan Markle hat die tageszeitung (taz), die eine Verschiebung der öffentlichen Prioritäten bereits erwartet hatte, die Geschichte der biologischen Vielfalt neben einem Bild der britischen Königsfamilie, den Windsors, aufgemacht. Es war mit einer Bildunterschrift versehen: "Windsors vor dem Aussterben gerettet!"

Repro von der TAZ-Zeitung Titel: Windsors vor dem Aussterben gerettet
Bild: TAZ