Arnon Grünberg: "Die Macht der Literatur ist beschränkt"
23. Oktober 2016Deutsche Welle: Sie waren Eröffnungsredner der Messe, stellen Ihren neuen Roman "Muttermale" vor, präsentieren das Buch Ihrer Mutter und absolvieren einen Interview-Marathon. Bleibt da noch Spaß an der Buchmesse?
Arnon Grünberg: Ich habe schon noch Kräfte. Man bereitet sich ja auch vor, weil man weiß: Das ist die Messe, da ist ein volles Programm. Es ist ja auch nicht meine erste Messe. Ich glaube, es war noch nie so voll. Und Spaß? Doch, jedes Gespräch ist ja auch wieder anders. Und es ist auch eine Abwechslung von Veranstaltungen, Interviews usw. Also, an sich sollte es auch noch Spaß machen. Und man sollte sich ja auch selbst hin und wieder überraschen lassen. Es gibt ja tatsächlich auch immer wieder andere Fragen.
Bei der Eröffnung war, auch von anderen Rednern, viel von Politik und Krieg die Rede. Es wurden Appelle verlesen. Inwiefern glauben Sie als Autor an die Macht der Worte?
Ich bin ja kein Politiker und die Texte, die ich zusammen mit Charlotte van den Broeck (während der Eröffnung) gesprochen habe, waren ja auch kein Appell, es waren Überlegungen und Aussagen. Es hieß ja nicht: "Das müssen wir machen! Das sollten wir machen!" Ich schreibe ja auch Kolumnen für die Zeitung "de Volkskrant". Man hat schon irgendwie einen gewissen Einfluss. Man sollte das zwar nicht überschätzen. Aber es wäre auch merkwürdig, das wieder völlig zu unterschätzen. Ich schreibe ja nicht für eine große Zeitung, und keiner hört mir zu. Das glaube ich nicht.
Aber: Ich weiß natürlich nicht, ob das Politiker lesen oder Leute mit Einfluss. Ob die dadurch ihre Meinung ändern? Das glaube ich nicht. Es ist ziemlich schwierig mit Argumenten, auch guten Argumenten, jemand, der einmal eine Meinung hat, dazu zu bringen, diese zu ändern. Die Macht der Literatur ist ziemlich beschränkt. Aber man schreibt ja auch keine Romane, weil man unbedingt die Welt verbessern möchte. So wie auch ein Wissenschaftler nicht forscht, weil er dadurch hofft, dass die Welt besser wird. Er will nur wissen, wie es ist. Und das ist etwas, was Wissenschaftler und Schriftsteller gemeinsam haben.
Reden wir über ihren neuen Roman "Muttermale". Da geht es im weitesten Sinne auch um Kriege: Menschen, die einen 'Krieg' im Inneren ausfechten: Ein Psychiater, dessen Mutter und die neue Pflegerin der Mutter. War es das, was sie interessiert hat: Diese Zerreißproben, die die Menschen durchmachen?
Zerrissen ist jeder. Was mich gereizt hat an dem Buch: Die Geschichte dieses Dreiecks. Die Mutter, der Sohn, der Psychiater ist, dazu kommt eine Frau, die eigentlich Patientin ist und aus verschiedenen Gründen zur Helferin wird. Mich hat interessiert, wie weit man gehen muss, um jemanden anderen zu helfen.
Ich stelle Fragen wie: Was heißt Leben? Nur: "Nicht Sterben?" Und heißt "am Leben erhalten" genug? Oder kommt noch etwas mehr dazu? Was heißt Empathie? Und was bedeutet es wirklich, das Leiden anderer Menschen zu sehen? Das Leiden von anderen Menschen ist ja immer ein Appell an eine andere Person. Es ging mir nicht so sehr um die Zerrissenheit. Zerrissenheit ist für mich fast etwas Selbstverständliches. Es ist ja schwierig, dauernd die eigenen Ideale und die Vorstellungen, wie es sein soll, und die von man sich selbst hat, wahr zu machen. Man enttäuscht sich auch oft selbst.
Über Ihren Roman heißt es jetzt oft, es sei ihr "persönlichstes Buch". Auch der Verlag wirbt damit. Wie stehen Sie dazu?
Alle Bücher sind auf ihre eigene Weise sehr persönlich. Es ist ja nie ein Zufall, warum ein Schriftsteller ein bestimmtes Buch schreibt. "Blauer Montag", mein erster Roman, war in gewisser Weise auch sehr persönlich. Und obwohl zum Beispiel der Roman "Tirza" völlig nicht-autobiografisch ist, ist es auch ein sehr persönliches Buch.
Ich wollte unbedingt einen Roman über meine Mutter schreiben, kein Sachbuch. Meine Mutter war eine Inspiration, aber das war sie schon öfter. Das weiß ich schon länger, auch für andere Bücher. Mutterfiguren spielen in meinen Romane öfters mit. Ich glaube, die Mutterfigur ist auch in diesem Buch sehr stark.
Ich wehre mich nicht dagegen, was Verlage über ein Buch schreiben. Das ist ihre Sache. Das müssen sie machen. Aber ich würde es selbst nie als mein persönlichstes Buch beschreiben. Was heißt das auch schon? Was soll das heißen "Persönlich"? Ein unpersönlicher Roman ist ja auch eine Absurdität. Das sind schlechte Romane.
Durch einen literarischen-dramaturgischen Trick, den wir an dieser Stelle nicht verraten wollen, haben sie auch nicht nur über die Mutter des Protagonisten geschrieben, sondern auch über dessen Vater!
Ja, stimmt. Ich wollte einen Roman über eine Mutter schreiben und fragte mich dann, wo ist eigentlich der Vater? Und der Vater ist ja auch im Roman versteckt, ja wirklich versteckt! Aber wir wollen nicht zu viel verraten.
Warum haben Sie als Hauptfigur ausgerechnet einen Psychiater gewählt?
Anfangs war die Hauptfigur ein Mathematiker! Man schreibt ja einen Roman, um eine Frage zu beantworten, oder auch mehrere Fragen. Für mich war die Frage: Kann Empathie auch gefährlich sein? Ist Empathie nur etwas Gutes? Kann sie sich auch in eine destruktive Kraft verwandeln? Ich habe eigentlich ganz schnell gemerkt, dass ich jemand brauchte, der auch professionell Empathie benötigt. Da war ein Psychiater eigentlich für mich ganz logisch. Auch weil ich mich schon lange für Psychologie interessiere. Ich habe schon 2013 einen langen Sachtext über eine psychiatrische Anstalt geschrieben, wo ich sozusagen "embedded" war, wo ich zwei Wochen mit den Patienten gelebt habe.
Das eine führte dann zum anderen: Sobald ich den Psychiater hatte, habe ich gedacht, er soll sich auch mit Suizid-Prävention beschäftigen. Für mich war klar, dass es um einen Mann geht, der seine Mutter am Leben erhalten möchte. Dazu gehört auch, dass er auch Andere am Leben erhalten möchte. Daraus geht die Frage hervor: Ist das Leben etwas, das man führen muss? Hat man das Recht zu sterben? Oder den Freitod zu wählen? Was heißt es, wenn man Leute davon abhält, sich selbst etwas anzutun? Ist das empathisch? Oder ist das eigentlich eher auch sehr väterlich, sehr paternalistisch? Ist das nicht immer auch ein Machtanspruch? Das sind schwierige Fragen, die ich aber wichtig fand.
Das Buch ihrer Mutter Hannelore Grünberg-Klein "Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit", in dem sie ihre Flucht vor den NS-Schergen und ihren Inhaftierung in verschiedenen Konzentrationslagern schildert, ist jetzt zeitgleich mit "Muttermale" erschienen. Wann wussten Sie davon, dass Ihre Mutter (die im vergangenen Jahr gestorben ist) diesen Text geschrieben hat?
Schon lange. In meiner Erinnerung wusste ich, dass sie das in der Zeit nach dem Tod meines Vaters, also um 1991, geschrieben hat. Sie hat es dann an einen Verlag geschickt. Der wollte es nicht haben. Da hat sie es einfach selbst kopiert und auch selbst ins Deutsche übersetzt und dann an ihre Familie weitergegeben.
Ich habe es (damals) nicht gelesen, weil ich mich irgendwie auch fürchtete, etwas zu lesen, was das Bild, das ich von meiner Mutter hatte, ändern könnte. Dann hat es einfach da gelegen und meine Mutter hat gewartet und ab und zu gesagt: "Du liest es nicht, Du bist nicht interessiert an meiner Geschichte." Das war nicht ganz wahr. Aber sie war auch nicht wirklich böse.
Dann kam ein Dokumentarfilm raus über meine Mutter und mein Verleger in Holland hat das Buch gelesen, daran Interesse gehabt und gesagt. "Das machen wir." So ist das Buch dann entstanden. Ich habe dafür dann auch ein Nachwort geschrieben. Leider hat meine Mutter nicht mehr erlebt, dass es publiziert wurde.
Wann haben sie es denn zum ersten Mal tatsächlich gelesen?
Von A bis Z erstmals im Winter 2015.
Arnon Grünberg: Muttermale, Roman, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten und Andrea Kluitmann, ISBN: 978-3-462-04925-1; Hannelore Grünberg-Klein: Ich denke oft an den Krieg, denn früher hatte ich dazu keine Zeit, ISBN: 978-3-462-04880-3, beide Bücher sind beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen.