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Armut: Gefahr für die Demokratie

Stephanie Höppner22. Dezember 2013

Viele Arme und schlecht Ausgebildete gehen nicht wählen. In manchen Wohnvierteln gibt nicht mal jeder zweite Bewohner seine Stimme ab - und es werden immer weniger. Eine Teufelsspirale, warnt eine aktuelle Studie.

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Mann trägt Discounter-Einkaufstüten (Foto: picture alliance/dpa)
Bild: picture-alliance/dpa

Wo bekomme ich die besten Sonderangebote? Hat mir das Amt das fehlende Geld überwiesen? Kann mein Kind mit auf Klassenfahrt? Der Alltag der Ärmsten in Deutschland ist bisweilen anstrengend. "Dies alles führt dazu, dass man mehr von der Hand in den Mund lebt, dass man Perspektiven verliert", sagt Armutsforscher Ernst-Ulrich Huster von den Universitäten Gießen und Bochum.

Es ist ein scheinbar paradoxes Phänomen: Gerade die Armen und sozial Benachteiligten hätten allen Grund, ihre Situation zu ändern - tun es aber selten. Zumindest auf politischer Ebene halten sie sich laut einer jüngst veröffentlichten Studie der Bertelsmann-Stiftung zurück und überlassen die Wahl der Volksvertreter lieber anderen. Noch nie haben sich so wenige Menschen an den Bundestagswahlen beteiligt wie 2009 und 2013. Auch wenn sich kurz vor der Wahl gut verdienende Intellektuelle wie die Philosophen Richard David Precht und Peter Sloterdijk medienwirksam gegen eine Wahlbeteiligung ausgesprochen haben - die Demokratieverweigerer sind nicht die Gebildeten. Besonders viele der 17 Millionen Nichtwähler stammen aus den sogenannten prekären Schichten, haben also wenig oder gar kein Einkommen und sind wenig gebildet.

Bundesweite Wahlmüdigkeit

Vor allem in den Vierteln, in denen viele Bewohner auf Sozialleistungen angewiesen sind, geht mittlerweile weniger als die Hälfte der Menschen wählen. Bei der diesjährigen Bundestagswahl gaben in der Kölner Hochhaussiedlung Chorweiler nur 42,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Im noblen Hahnwald waren es dagegen über 88 Prozent. Einen besonders starken Zusammenhang fanden die Forscher zwischen der Wahlbeteiligung und der Arbeitslosenquote, so auch in Köln: Die Arbeitslosenquote in Chorweiler liegt bei über 19 Prozent, in Hahnwald bei gerade mal einem Prozent.

Die Wahlmüdigkeit der Armen zieht sich quer durch alle Städte und Regionen, durch den Westen ebenso wie durch den Osten der Republik. So gingen in Leipzig in dem von Armut beherrschten Stadtteil Volkmarsdorf lediglich 47 Prozent wählen, im bürgerlichen Schleussig beteiligten sich dagegen 82 Prozent. Und auch auf dem Land ist das Wahlverhalten an Einkommen und Bildungsgrad gekoppelt.

Stadtteil Chorweiler in Köln (Foto: dpa)
Chorweiler: Ein Viertel, in dem besonders viele Menschen auf Sozialhilfe angewiesen sind

Wahl ist keine Bürgerpflicht

Das Phänomen ist nicht neu, doch noch nie war das Gefälle so groß wie bei den Bundestagwahlen 2013 und 2009. "Wir stellen bei den ärmeren und weniger gebildeten Schichten einen Wertewandel fest", sagt Robert Vehrkamp, Mit-Verfasser der Studie. Galt die Wahl bis in die 1980er Jahre als demokratische Bürgerpflicht, so empfänden die Menschen das heutzutage nicht mehr so. Auch die traditionelle Bindung an bestimmte Parteien wie etwa an die sozialdemokratische SPD in traditionellen Arbeitervierteln ist passé.

Der Alltag sei auch so schon fordernd genug, sagt Armutsforscher Huster im DW-Gespräch: "Es ist schwierig, Familien aus bestimmten Haushalten dazu zu bewegen, zu medizinischen Vorsorgeuntersuchungen zu gehen." Bei einem so einem abstrakten Vorgang wie der Wahl sei es noch schwieriger. Hinzu kommt allgemeines Misstrauen Politikern und Gremien gegenüber. Auch die zunehmende Komplexität der politischen Entscheidungen - etwa durch die Europäische Union - schrecke Menschen ab, sich überhaupt zu beteiligen.

Erstmal fürs Viertel kämpfen

Studien-Autor Verhrkamp glaubt, dass sich dieses Phänomen weiter verstärken wird. Die Armen gehen nicht wählen, weil sie fürchten, sowieso nicht vertreten und ernstgenommen zu werden. Anschließend werden sie nicht mehr repräsentiert, weil sie sich selbst von ihrem Wahlrecht verabschiedet haben - ein Teufelskreis. "Wir haben eine Zweiklassen-Demokratie in unserem Lande", warnt auch Huster.

Wahllokal in Berlin (Foto: Getty Images)
Die Wahlbeteiligung sinkt - bundesweitBild: Getty Images

Natürlich besteht Politik nicht nur aus dem Weg zur Wahlurne. Gerade in den vergangenen Jahren sind viele Menschen für ihre Belange auch auf die Straße gegangen - Menschen, die zum Beispiel gegen Großbauprojekte und für mehr Kitaplätze demonstrierten. Politikwissenschaftler Huster plädiert darum dafür, gerade Nichtwähler wieder auf lokaler Ebene stärker einzubinden. "Und wer dort wieder Perspektiven für sich sieht, der ist sicherlich auch in der Lage, in größeren geographischen oder politischen Zusammenhängen politische Verantwortung zu übernehmen."

Für Robert Vehrkamp bleibt das ein frommer Wunsch: Wählen gehen ist aus Sicht des Wissenschaftlers noch die einfachste aller Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen: "Diejenigen, die nicht wählen gehen, tummeln sich mit Sicherheit auch nicht in anderen Formen demokratischer Teilhabe."