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Politik

Argentinien: Soziale Spannungen wachsen

Emilia Rojas
12. Mai 2022

Soziale Unsicherheit, eine rasante Inflation und interne Streitigkeiten treiben die argentinische Regierung in die Enge. Die Arbeitslosenbewegung hat einen Protestmarsch gegen Armut und Hunger organisiert.

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Argentinien Buenos Aires | Tag der Arbeit
Buenos Aires: Demonstration am Tag der Arbeit, am 1. Mai 2022Bild: Pablo Aharonian/AFP/Getty Images

Am Donnerstag wird in Argentinien die Inflationsrate für den Vormonat veröffentlicht. Positive Nachrichten wird es nicht geben, nachdem der Index im März auf 6,7 Prozent gestiegen und im ersten Quartal insgesamt um 16,1 Prozent zugelegt hat, wie aus den Daten des Nationales Institut für Statistik (INDEC) hervorgeht.

Am selben Tag trifft der "Marsch für Arbeit, Löhne, gegen Hunger und Armut" auf der Plaza de Mayo im Herz der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires ein. Organisiert hat ihn die Arbeitslosenbewegung Unidad Piquetera, und er wird der Höhepunkt der Proteste sein, die am Dienstag in verschiedenen Teilen des Landes begonnen hatten.

Bauernprotest in Argentinien
Bauernproteste: Demonstration gegen Präsident Alberto Fernández und seine RegierungBild: Emiliano Lasalvia/AFP

Der Protest kehrt auf die Straße zurück, denn die Armut ist stark angestiegen; laut einem Bericht der Sozialen Beobachtungsstelle der Katholischen Universität Argentiniens im dritten Quartal des vergangenen Jahres auf über 43 Prozent. Im Jahr 2017 lebten noch rund 28 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze.

Hilfsmaßnahmen der Regierung reichen nicht

"Die sozialen Organisationen, die zu dieser Demonstration aufgerufen haben, fordern vom Staat, dass er - wenn er schon keine Antworten auf die strukturelle Krise gibt - wenigstens Antworten auf die soziale Notlage geben sollte", sagt Silvia Saravia der DW. "Die bisherigen Antworten reichen nicht aus. Wir brauchen Lebensmittel, wir brauchen Hilfen, um ein Unternehmen zu gründen und ein gewisses Einkommen zu erzielen." Silvia Saravia ist nationale Koordinatorin von Barrios de Pie - Libres del Sur, einer der sozialen Organisationen, die sich in der Piquetero-Bewegung zusammengeschlossen haben. Sie betont, dass die Regierung nach den jüngsten Protesten zwei Hilfsmaßnahmen angekündigt habe: Es sollen Lebensmittelkarten und Gutscheine ausgegeben werden. "Aber da diese Gutscheine von der Inflation aufgefressen werden, glauben wir, dass alle Menschen in den Arbeitervierteln friedlich und organisiert auf die Straße gehen werden."

"Es gibt eine große soziale und wirtschaftliche Unzufriedenheit in vielen Bereichen der Gesellschaft, nicht nur in den einkommensschwachen Sektoren", stellt der argentinische Wirtschaftswissenschaftler Jorge Neyro fest. Er erinnert daran, dass "während der Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 die Dinge auch nicht besonders gut liefen, aber es gab pandemiebedingt weniger Proteste. Jetzt gibt es immer wieder Aufmärsche und Demonstrationen aus verschiedenen Sektoren der Gesellschaft, die ähnliche Dinge fordern."

Die Inflationsspirale dreht sich weiter

Die Inflation ist nach Ansicht von Neyro das große Grundproblem. "Alles in allem hat sich der Arbeitsmarkt in Argentinien nach der Pandemie einigermaßen erholt. Aber es gibt das Phänomen der verarmten Arbeitnehmer. Viele erhalten ein Einkommen, das unter den Kosten für einen Grundnahrungsmittelkorb liegt. Und das ist im Wesentlichen auf die hohe Inflation zurückzuführen." Der Ökonom spricht gegenüber der DW von "inflationärer Gymnastik, die seit vielen Jahren im Gange ist". Und die negative Entwicklung beschleunige sich. "Es ist klar, dass die internationale Situation die Probleme Argentiniens erheblich verschärft hat."

Der Anstieg der Kraftstoffpreise, der praktisch die ganze Welt in Aufruhr versetzt, wird sich auch auf Argentinien auswirken - vor allem, da es unter dem Druck des Internationalen Währungsfonds steht, Energiesubventionen abzubauen. Es wird erwartet, dass das Wirtschaftsministerium starke Erhöhungen der Gas- und Stromtarife beschließen wird, mit Auswirkungen auf die gesamte Wirtschaft Argentiniens.

Argentinien Proteste gegen den IWF
Druck vom Internationalen Währungsfonds - und Proteste gegen den IWF in Buenos Aires im März 2022Bild: Agustin Marcarian/REUTERS

Erheblich gestiegen sind bereits die Preise für Lebensmittel. Die Statistikbehörde INDEC verzeichnete im März einen Anstieg der Lebensmittelpreise um 7,2 Prozent. Silvia Saravia will das nicht hinnehmen. Argentinien "ist ein Land, das hauptsächlich Lebensmittel produziert. Und doch werden sie so verkauft, als ob wir sie hier nicht produzieren und sie importieren müssten. Man schätzt, dass unser Land Lebensmittel für etwa 400 Millionen Menschen produziert. Wir sind hier 45 Millionen. Wir schlagen vor, dass eine für die Ernährung der Bevölkerung notwendige Quote zurückgestellt wird und erst dann der Rest auf dem Weltmarkt verkauft wird", betont sie. "Angesichts der kritischen Weltlage bei den Lebensmittelpreisen glauben wir, dass diese Geschäftsleute gute Gewinne erzielen werden. Aber wir müssen die Menschen hier in den Vordergrund stellen."

Streit lähmt die Regierung

Laut Neyro versucht die Regierung von Alberto Fernández, ein "Gleichgewicht" zwischen den verschiedenen Forderungen herzustellen, "was nicht einfach ist und auch nicht sehr gut funktioniert". Er fügt hinzu, dass "die Wirtschaft die Regierung in die Enge treibt. Die Prognosen für dieses Jahr liegen bei 67 oder sogar 70 Prozent jährlicher Inflation, während wir vor zwei oder drei Monaten noch pessimistisch von 55 oder 60 Prozent sprachen."

Der Wirtschaftswissenschaftler erinnert daran, dass im nächsten Jahr Präsidentschaftswahlen anstehen und dass sich die Exekutive der Notwendigkeit bewusst ist, den Kurs zu korrigieren, um ein gutes Ergebnis zu erzielen. Aber die Regierung sei gespalten.

Argentinien | Cristina Fernández und  Alberto Fernández
Bald sind Wahlen: Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner und Präsident Alberto FernándezBild: Marcos Brindicci/Getty Images

"Aus den Reihen der Regierung, insbesondere um Vizepräsidentin Cristina Fernández de Kirchner und ihren Anhängern gibt es wöchentlich, ich würde sogar sagen täglich, Kritik an der Wirtschaftspolitik, der Ausrichtung der Außenpolitik und anderem. Es handelt sich um öffentliche Kritik an den Entscheidungen des Präsidenten". Jorge Neyros Meinung nach ist dies ein ernstes Problem, da es die politische Legitimität der Regierung beeinträchtigt und die Politik weniger vorhersehbar macht.

In der Bevölkerung machen sich derweil Unsicherheit und Unzufriedenheit breit. Proteste sind einmal mehr ein Mittel politischen Drucks. Silvia Saravia erwartet zwischen 100.000 und 200.000 Menschen auf der Plaza de Mayo. Es gebe auch viele und große Veranstaltungen in den Provinzen. Vergleiche mit den sozialen Unruhen in Ländern wie Chile und Kolumbien lehnt sie aber ab. "Im Moment sehen wir es als etwas anderes. Denn in diesem Fall werden die Proteste von langjährig etablierten Organisationen getragen."