Argentinien: Proteste gegen Mileis Reformen
22. Dezember 2023Dieses Dekret hat das Zeug, in die Geschichte Argentiniens einzugehen. Ebenso die genau 15 Minuten und 20 Sekunden andauernde TV-Ansprache des neuen argentinischen Präsidenten Javier Milei.
Der libertäre Ökonom ist seit elf Tagen im Amt und legt bei den Reformbemühungen ein hohes Tempo vor. Unmittelbar nach seinem Amtsantritt legte er einen "Plan zur Stabilisierung der argentinischen Wirtschaft" vor, der eine radikale Abwertung des argentinischen Pesos und eine Halbierung der Ministerien vorsah. Am Mittwoch (20.12.2023) kündigte er nun eine Reihe von Maßnahmen an, mit denen er die argentinische Wirtschaft deregulieren will.
Armut und Liberalisierung
Das Maßnahmenpaket soll die Probleme der argentinischen Wirtschaft grundlegend anpacken, sagte Milei am Abend (Ortszeit). Laut Einschätzung der Katholischen Universität (UCA) lebte zum Ende des dritten Quartals fast jeder zweite Argentinier (44,7 Prozent) unter der Armutsgrenze, und fast zwei Drittel (62,9 Prozent) der argentinischen Kinder und Jugendlichen bis 17 Jahre sind von Armut betroffen. Die Jahresinflation lag bei rund 160 Prozent.
Persönlich verlas Milei 30 Sofortmaßnahmen, die einen massiven Einfluss auf die argentinische Volkswirtschaft haben, sollten sie politisch umgesetzt werden.
Dazu gehört die Aufhebung von Gesetzen, die derzeit Arbeitnehmer und Mieter schützen, um den Arbeits- und Immobilienmarkt flexibler zu machen. Außerdem will Milei staatliche Unternehmen privatisieren und Beschränkungen für den Export argentinischer Waren abschaffen: "Ab sofort ist es verboten, Ausfuhren zu verbieten", sagte er. Auch eine Freigabe zur Umwandlung von Fußballvereinen in Aktiengesellschaften soll möglich werden, wenn Klubs dies wünschen.
"Reformer" gegen "Blockierer"
Insgesamt seien über 300 Gesetze betroffen, die entweder abgeschafft oder modernisiert werden sollen, sagte Milei. Am Donnerstag (21.12.2023) ließ er zudem wissen, dass er dem Kongress auch neue Gesetze vorlegen werde. Das Parlament wird sich nun damit befassen - juristisch umstritten ist, ob das Dekret auch ohne Mehrheit in Kraft treten kann.
Im Kongress hat die libertär-konservative Regierung keine Mehrheit. Es deutet sich ein Machtkampf zwischen dem "Reformer" Milei und "Blockierern" im Parlament an, die der neue Präsident dann für ein Scheitern der Reformen verantwortlich machen könnte.
Milei kann sich auf einen deutlichen Wahlsieg in der Stichwahl gegen den Kandidaten des bislang regierenden links-peronistischen Regierungslagers, Sergio Massa, berufen. Im Wahlkampf hatte Milei seine Deregulierungs- und Privatisierungsstrategie angekündigt. Ob die Mehrheit der Argentinier allerdings einen derart harten Reformkurs unterstützen, ist nicht sicher.
Gewerkschaften: Regierung kriminalisiert Protest
Stunden vor der mit Spannung erwarteten TV-Ansprache hatten bereits erste organisierte Proteste der linksgerichteten Organisation "Polo Obrero" tausende Menschen auf der Plaza de Mayo in der Hauptstadt Buenos Aires versammelt.
Die neue konservative Sicherheitsministerin Patricia Bullrich mobilisierte wiederum im Vorfeld ein Großaufgebot an Sicherheitskräften und drohte Teilnehmern an Straßensperren, ihnen die Sozialhilfe zu entziehen. Dabei stützt sie sich auf neue Regeln gegen illegale Straßenblockaden.
"Die neue Regelung der sozialen Proteste ignoriert eindeutig die grundlegenden verfassungsmäßigen Rechte und Garantien sowie die demokratischen Institutionen unseres Landes", verurteilten die Gewerkschaften die Maßnahmen. Die Initiative der neuen Regierung zeige eine "klare und offensichtliche Entscheidung, Protest zu kriminalisieren".
Die vergleichsweise überschaubare Teilnehmerzahl im demonstrationsfreudigen Buenos Aires verbuchte die Regierung als Erfolg. Doch nach der Rede Mileis versammelten sich spontan tausende Menschen in der Hauptstadt und in anderen Städten wie La Plata, um ihren Unmut über die angekündigten Maßnahmen kundzutun: wie in Südamerika üblich mit dem Schlagen mit Löffeln auf Kochtöpfen. Diese spontane Demonstration dürfte der Auftakt zu einer langen gesellschaftlichen Auseinandersetzung über den richtigen Weg aus der Wirtschaftskrise sein.
"Avantgarde oder abschreckendes Beispiel"
"Milei bezeichnet den Staat als eine Verhinderungsmaschine, von der er die Wirtschaft befreien will. Mit diesem ultraliberalen Modell wird Milei entweder internationale Avantgarde oder abschreckendes Beispiel", prognostiziert der unabhängige Wirtschaftsberater Carl Moses im Gespräch mit DW in einer ersten Reaktion einen offenen Ausgang der Reformbestrebungen.
Ricardo Aronskind von der Nationalen Universität General Sarmiento kritisierte auf Anfrage von DW das Dekret des Präsidenten scharf: "Er zählte eine Reihe von Maßnahmen zur Wirtschaftsregulierung und Privatisierung auf, hinter denen in vielen Fällen sehr spezifische private Interessen stehen, in vielen Fällen mit ausländischem Kapital, das an der Übernahme argentinischer Unternehmen oder Vermögenswerte interessiert ist."