Archäologen finden Theater in Jerusalem
16. Oktober 2017Gute 15 Meter unter dem heutigen Straßenniveau und "noch immer drei bis vier Meter über dem Felsgrund" steht Joe Uziel auf einem halbkreisförmig verlaufenden Mäuerchen aus behauenem Stein, im Rücken 8 mal 15 Meter gewaltige Steinquader der nördlichen Verlängerung der Klagemauer. Den imaginären zweiten Halbkreis bildet sein Publikum. In antiken Zeiten hätte die Szene wohl andersherum stattgefunden: Der Archäologe steht auf den Überresten dessen, was er und seine Kollegen als Theater aus der spätrömischen Zeit identifiziert haben. Unter seinen Füßen: die Fundamente für geschätzt 200 Sitzplätze. Vor ihm: die Bühne.
Eigentlich hatten sie sich bei den umfangreichsten Grabungen im Bereich der Westmauer seit zehn Jahren Aufschlüsse erhofft über das Alter des sogenannten Wilson-Bogens, der nach ihrem Entdecker benannten Bogenkonstruktion und einzigen überlebenden architektonischen Struktur des zweiten Tempels. "Der Fund einer theaterähnlichen Struktur", sagt Uziel, "ist eine große Überraschung. Mit einem solchen Bau hätte an dieser Stelle keiner gerechnet."
Aufregend sei der Fund auch, weil die historischen Quellen mit der Archäologie zusammenpassten: "Wir wissen von schriftlichen Quellen wie Josephus Flavius, dass es Theater im Jerusalem des zweiten Tempels gegeben hat." Dass gleichzeitig ein seit 1700 Jahren verschüttetes Teilstück der Westmauer - im Deutschen als Klagemauer bekannt - freigelegt wurde, rückt durch den unerwarteten Fund fast in den Hintergrund. Im Vergleich zu Theatern in Bet Schean oder Cäsarea sei der in Jerusalem gefundene Bau klein. Dies und die Tatsache, dass das Halbrund unter dem Wilson-Bogen angelegt wurde, spricht für den Archäologen dafür, dass es sich um ein sogenanntes Odeon gehandelt haben könnte: einen Ort für akustische Darbietungen. Auch ein "Buleuterion", einen Versammlungsort für den Stadtrat, hält er für möglich - oder auch eine multifunktionelle Nutzung.
Noch sind die Datierungen nicht bestätigt. Für Uziel steht aber nach gegenwärtiger Erkenntnis fest, dass die Struktur unter seinen Füßen aus dem 2. oder 3. Jahrhundert stammt. Dass das Theater laut seiner Einschätzung nie fertiggestellt wurde, werfe weitere Fragen auf: Wurde der Bau vor dem Bar-Kochba-Aufstand (132-135) begonnen und nach dessen Scheitern nicht vollendet? Für eine Bestätigung dieser These bräuchte es weitere Belege, etwa das ausstehende Ergebnis der C14 Datierung.
Acht Metallsäulen stabilisieren die Decke zwischen den Grabungen und dem Wilson-Bogen. Sie deuten eine Herausforderung an, unter der die Archäologen im zweiten Untergeschoss ihre Arbeit versehen. Ein Stockwerk unter der Erde beten Juden in Richtung des früheren Tempels; darüber, auf heutigem Straßenniveau, ist der Zugang zum Kettentor zum muslimischen Tempelberg-Areal.
Die Zusammenarbeit "mit den Top-Ingenieuren des Landes" soll Schäden vorbeugen, an den historischen Resten ebenso wie an der urbanen Bausubstanz des heutigen Jerusalem. Rund sechs Monate, so schätzen die Archäologen, werden die Grabungen noch dauern. Auf den verbleibenden Metern bis zum Felsgrund erhoffen sie sich weitere Funde, die Rückschlüsse auf die Zeit des ersten Tempels (8. Jahrhundert v. Chr.) erlauben.Den frühzeitigen Gang an die Medien begründet Uziels Kollege Juval Baruch mit Gerüchte- und Legendenbildung. Um Vorwürfen der Geheimnistuerei und illegaler Tätigkeiten zu begegnen, habe man sich entschieden, die Baustelle zu öffnen. Andere Motive mögen im Hintergrund eine Rolle gespielt haben: Am Mittwoch soll die Grabung bei einer Fachkonferenz an der Hebräischen Universität Jerusalem präsentiert werden - im Rahmen der Feiern zum 50. Jahrestag der israelischen Annektierung Ostjerusalems.
is/ch (kna)