Nahles Initiative für den Balkan
30. September 2015Es könne nicht sein, dass "wir mit Ländern wie Bosnien-Herzegowina über die Anwartschaft zur EU-Mitgliedschaft reden, aber die Menschen aus diesen Staaten zugleich nur über das Asylrecht nach Deutschland kommen. Das ist der falsche Weg und belastet die Asylverfahren." So die Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Andrea Nahles (SPD), im Interview mit dem "Spiegel" Anfang September. Damit begründete Nahles ihren Vorschlag, Deutschland solle für einen Zeitraum von fünf Jahren jährlich ein Kontingent von 20.000 Arbeitsbewilligungen für Menschen vom Westbalkan zur Verfügung stellen. Dies würde sechs Länder betreffen: Bosnien-Herzegowina, Serbien, Kosovo, Montenegro, Mazedonien und Albanien.
In Anbetracht der Tatsachen, dass es zur Zeit 600.000 offene Stellen in Deutschland zu vergeben gibt, wäre dies eine "Win-Win-Situation", meint Dr. Wido Geis gegenüber der Deutschen Welle. Der Migrationsexperte beim Institut der Deutschen Wirtschaft in Köln führt weiter aus, die von Arbeitsministerin Nahles geplanten neuen Arbeitsbewilligungen richteten sich insbesondere an Personen im mittleren Qualifikationsbereich. Die finde in ihren Heimatländern aufgrund der schlechten wirtschaftlichen Lage häufig keine passende Arbeit. Ihnen solle eine Erwerbstätigkeit in Deutschland ermöglicht werden. Sorgen, dass dies zu einem sogenannten "Brain-Drain" führen könnte, hat Migrationsexperte Geis nicht. Er nimmt an, dass dies auch den Herkunftsländern dieser Arbeitsmigranten zugutekommen könne, "da ein Teil dieser Personen nicht auf Dauer in Deutschland bleibt, sondern wieder zurückkehren wird".
In den Westbalkanländern selbst sehen Wirtschaftsexperten den Vorstoß von Arbeitsministerin Nahles zumindest in Teilen positiv. Die mazedonische Wirtschaftsprofessorin Marija Zarezankova-Potevska erwartet, dies würde zu einer kurzfristigen Entspannung auf den Arbeitsmärkten des Westbalkans führen, da in diesen Ländern hohe Arbeitslosigkeit herrsche. Allerdings warnt sie auch vor negativen Folgen einer solchen Abwanderung von Arbeitskräften. Anders als ihr deutscher Kollege glaubt sie nicht, dass diese Menschen später wieder aus Deutschland zurückkämen. Zarezankova-Potevska fordert deshalb, für diese Menschen langfristig "Lösungen in den eigenen Ländern zu finden".
Eine realistische Alternative für Asylbewerber
Die Professorin aus Mazedonien vermutet hinter dem Vorschlag von Ministerin Nahles die Absicht, die Zahl der Asylsuchenden vom Westbalkan zu verringern. Deswegen wäre das eine akzeptable Lösung für jene Asylsuchenden vom Westbalkan, die sich bereits in Deutschland befänden, so Zarezankova-Potevska. Auch Wido Geis meint, einer der Gründe für Nahles Initiative sei die große Zahl von Asylbewerbern in Deutschland, die keine Chancen auf Anerkennung ihres Antrags hätten und für die "eine realistische Alternative geschaffen werden soll". Im ersten Halbjahr 2015 übertraf die Zahl der Asylsuchenden vom Westbalkan sogar die der Flüchtlinge aus Syrien. Die Situation hat sich durch den aktuell großen Flüchtlingsstrom aus Syrien nach Deutschland zwar verändert. Aber noch immer kommt eine große Zahl von Flüchtlingen aus den Westbalkanländern nach Deutschland. In den letzten Monaten sind vermehrt Menschen aus Albanien und dem Kosovo als Armutsflüchtlinge nach Deutschland gekommen. Viele von ihnen sind Roma. Unter denen wiederum sind viele ohne jegliche berufliche Qualifikation.
Arbeitsministerin Nahles will auch solchen Menschen, die keine Qualifikation haben, eine Möglichkeit eröffnen in Deutschland eine Arbeit zu finden. Ihr Vorschlag beinhaltet auch die Aufnahme von Menschen, die eine Ausbildung in Deutschland machen wollen. "Das wäre eine Möglichkeit, den Kreislauf von Einreise und Abschiebung zu durchbrechen", sagte Nahles dem Spiegel.
Der Balkan ist ein integraler Teil Europas
Migrationsexperte Geis verweist auf einen weiteren Grund, warum die Arbeitsministerin ausgerechnet den Menschen vom Westbalkan so Angebot machen will: Diese Länder seien ein integraler Teil Europas, erklärt Geis. Und obwohl sie noch nicht in der EU seien, sollen sie "zunehmend in die Europäische Gemeinschaft und den gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum eingebunden werden." In diesem Zusammenhang fordert Geis, unabhängig vom derzeitigen Zustrom von Flüchtlingen sollten die Zugangsmöglichkeiten zum deutschen Arbeitsmarkt und dem Bildungssystem für Menschen aus den Westbalkanländern verbessert werden: "Die Erteilung von jährlich 20.000 Arbeitsbewilligungen für Personen aus den Westbalkanländern, die nicht an ein konkretes Qualifikationsniveau gebunden sind, ist hier ein erster wichtiger Schritt" hin zu einer europäischen Integration dieser Länder, betont der Migrationsexperte vom Kölner Institut der Deutschen Wirtschaft.
Auch der Präsident der Wirtschaftskammer des Kosovo sieht in der Nahles Initiative eine Stärkung der EU-Perspektive für den Westbalkan. Safet Gerxhaliu erklärt: "Dies würde die Botschaft beinhalten, dass wir zu Europa gehören". Gerxhaliu betont, Jobaussichten in Deutschland böten für viele junge Menschen aus dem Kosovo einen Hoffnungsschimmer.
So wie für viele junge Menschen in Bosnien-Herzegowina. Der Arbeitsmarktexperte Erol Mujanović aus Sarajevo hält es für "auf jeden Fall besser, sie gehen nach Deutschland um zu arbeiten, anstatt in Bosnien-Herzegowina arbeitslos zu sein". Mujanović hält den Vorschlag zur Schaffung eines Kontingents von 20.000 Arbeitsbewilligungen jährlich den Westbalkan für folgerichtig: Schließlich hätten sich die Gastarbeiter vom Balkan in den vergangenen Jahrzehnten als fleißig bewiesen hätten und seien in Deutschland gut integriert.
Zugleich ist sich Ministerin Nahles bewusst, dass dieser Schritt Ängste schüren könnte bei der deutschen Bevölkerung. Sie verweist auf 240.000 junge Leute in Deutschland, die nicht ins Arbeitsleben finden sowie auf eine Million Langzeitarbeitslose. "Die dürfen wir nicht vergessen", mahnt die Arbeitsministerin.