Antisemitismus, wo es fast keine Juden gibt
13. Juni 2017Ein Urteil gegen drei junge Männer aus der weißrussischen Stadt Mogiljow ist nun von Gerichten höherer Instanz bestätigt worden. Im November 2016 hatten die Skinheads, die offen Anhänger des Nationalsozialismus sind, ein Mahnmal für Holocaust-Opfer mit schwarzer Farbe beschmiert. Die Ermittlungen gegen sie dauerten drei Monate. Im Februar wurden sie des Rowdytums schuldig gesprochen. Drei weitere Monate dauerte die Prüfung ihrer Beschwerde.
Doch nun muss der älteste von ihnen, ein 19-jähriger Student, für zwei Jahre ins Gefängnis. Sein 18-jähriger Freund kommt für ein halbes Jahr hinter Gitter und der dritte Täter kam mit eine Haftstrafe von sechs Monaten auf Bewährung davon, da er noch minderjährig ist.
Kritik an den Behörden
Antisemitismus sei in Mogiljow immer noch ein Thema, sagt der Koordinator des Menschenrechtszentrums "Viasna", Alexeij Koltschin. Ihm zufolge erstellen Menschenrechtler regelmäßig eine "Nazi-Graffiti-Karte", auf der alle Orte verzeichnet sind, wo Hakenkreuze oder rassistische Schmierereien entdeckt wurden. Koltschin bedauert, dass die weißrussische Gesellschaft immer noch solche Graffitis auf den Wänden ihrer Häuser duldet.
Ihm stimmt der Menschenrechtler Alexej Kaplan zu. Er ist Vorsitzender der jüdischen Gemeinde von Mogiljow. Der Gedenkstein mitten in der Stadt, erinnert sich Kaplan, sei nachts mit Farbe übergossen worden. Den ganzen nächsten Tag über sei dies aber weder der Polizei noch den kommunalen Diensten aufgefallen. Niemand habe den antisemitischen Vorfall beachtet. Erst, nachdem Aktivisten in sozialen Netzwerken entsprechende Fotos hochgeladen und Journalisten Anfragen gestellt hatten, wurden die Behörden aktiv. Kaplan zufolge wurde der Gedenkstein im Jahr 2012 schon einmal mit Farbe übergossen. Doch damals seien keine Ermittlungen eingeleitet worden.
"Neue Erziehungsansätze nötig"
Boris Buchel ist ebenfalls Menschenrechtler. Er selbst hat jüdische Wurzeln und hält es für notwendig, nach dem Prozess gegen die Skinheads ihren Antisemitismus wissenschaftlich zu untersuchen. Buchel berichtete, einer der Angeklagten habe vor Gericht der Staatsanwaltschaft vorgeworfen, die Unterschiede zwischen Nationalismus, Nationalsozialismus und Faschismus nicht zu kennen. Der junge Mann, so Buchel, sei was Ideologien angehe, ziemlich versiert gewesen.
Buchel weist zudem darauf hin, dass im Gerichtssaal ständig zwei Dutzend junge Skinheads anwesend gewesen seien, die die Angeklagten unterstützt hätten. Doch über die NS-Opfer hätten sie nichts gewusst. Das habe man an ihren Antworten auf die Fragen der Staatsanwaltschaft gesehen. Die jungen Skinheads seien sehr überrascht gewesen, als sie erfahren hätten, dass während des Zweiten Weltkrieges sechs Millionen Juden getötet wurden, darunter jeder dritte Einwohner Weißrusslands.
Buchel ist überzeugt, dass bei der Erziehung junger Menschen heute neue Ansätze nötig sind. Die Ideologen, die es in allen weißrussischen Bildungseinrichtungen gebe, hätten jedoch Angst, politische Theorien zu erörtern. "Denn wenn man damit beginnen würde, über die Anfänge des Nationalsozialismus in Deutschland in den 1930er Jahren offen zu sprechen, dann würde man zwangsläufig auch auf Verstöße gegen die Meinungsfreiheit und Bürgerrechte in Weißrussland zu sprechen kommen", so Buchel.
Antisemitismus ohne Juden
Die Skinheads von Mogilew machen keinen Hehl daraus, den Gedenkstein gezielt für ihre Aktion ausgewählt zu haben. Semen Glasstein, Synagogenältester der jüdischen Gemeinde "Arche", sagt, aufgestellt worden sei der Gedenkstein im Jahr 2008 am Eingang zum ehemaligen Ghetto. Die in ihn eingekerbten Handflächen sollen die Seelen der Menschen symbolisieren, die im Ghetto umkamen. Bis zu 12.000 Gefangene wurden erschossen. Der aktuelle antisemitische Vorfall habe sich, so Glasstein, in ein einer Stadt ereignet, in der es so gut wie keine Juden mehr gebe. Ihm zufolge sind von den 370.000 Einwohnern Mogiljews höchstens 3000 Juden.
Heute würden sich die Juden eigentlich nicht in Gefahr sehen, sagt Alexej Kaplan. In Weißrussland könnten sie ein Leben wie alle anderen Bürger führen und auch Karriere machen. Die Situation sei völlig anders als während der Sowjetzeit. Gleichzeitig macht Kaplan aber darauf aufmerksam, dass keine einzige jüdische Einrichtung in Mogiljow ein Schild an ihrer Tür hat, aus Angst vor möglichen Zwischenfällen.
Angesichts der Anzahl von Juden, die überhaupt noch in Weißrussland leben, spricht der Historiker Igor Puschkin, der in Mogiljow lebt, von einem historischen Drama: Vor 100 Jahren habe die Bevölkerung in Mogiljow noch zu 52 Prozent aus Juden bestanden. Juden und Weißrussen hätten fünf Jahrhunderte lang zusammengelebt. Juden seien bekannte Schriftsteller, Künstler und Theaterleute gewesen. Heute werde daran nicht einmal mehr erinnert, sagt Puschkin. "Das ist, was Weißrussland für immer verloren hat", betonte er.