"Antisemitismus viel zu lange ignoriert"
2. März 2018Jüdinnen und Juden erleben tagtäglich die Bedrohung durch in Deutschland lebende Rechtsextremisten und Islamisten, wie der Politikwissenschaftler und Antisemitismusforscher Samuel Salzborn deutlich macht. Die Polizeipräsenz vor jüdischen Einrichtungen sei genauso wahrnehmbar wie Pöbeleien und Drohungen, erläutert der Politologe in einem Interview der "Süddeutschen Zeitung". Rechtsextremismus und Islamismus seien sehr ähnlich in ihren Zielen, beide enthielten den Antisemitismus als weltanschaulichen Kern und stellten damit eine fundamentale Bedrohung für Juden und damit für die gesamte Demokratie dar, betont er.
Juden-feindliche Äußerungen auf allen Ebenen
Antisemitismus sei von allen Parteien - von der Linken bis hin zur CDU/CSU - viel zu lange ignoriert worden, so Salzborn. Genau dies mache sich die AfD zunutze. "Man findet offen antisemitische Äußerungen auf allen Ebenen der Partei."
Der Sozialwissenschaftler verweist auf den baden-württembergischen Landtagsabgeordneten Wolfgang Gedeon, der sich immer wieder antisemitisch äußerte, und dennoch nicht aus der Partei ausgeschlossen worden sei. Zudem gebe es auch keine wirkliche inhaltliche Kritik an antisemitischen Äußerungen, so Salzborn. "Dazu kommen der Geschichtsrevisionismus von Björn Höcke und Alexander Gaulands extrem verharmlosende Äußerungen über die Wehrmacht (im zweiten Weltkrieg), die ja immerhin den antisemitischen Vernichtungskrieg geführt hat." Das alles werde in der Partei toleriert, kritisiert der Politikwissenschaftler weiter.
Antisemitismus tritt durch Facebook und Twitter deutlicher zutage
Insgesamt sieht Salzborn in der Gesellschaft weniger eine Zunahme des Antisemitismus, als vielmehr das Phänomen, dass dieser sehr viel sichtbarer zutage tritt. "Wir wissen aus der empirischen Sozialforschung, dass in Deutschland rund 15 bis 20 Prozent der Menschen antisemitische Einstellungen vertreten. Die haben sich aber früher weniger öffentlich geäußert. Das hat sich geändert durch Facebook, Twitter und Youtube."
Menschen, die früher einen Leserbrief geschrieben hätten, der möglicherweise nicht gedruckt wurde, seien heute viel deutlicher sichtbar und auch viel lauter. "Sie sind durch die sozialen Medien aber auch viel besser untereinander vernetzt, was wiederum in den Alltag zurückstrahlt - man kann ja erst an einer antisemitischen Demo teilnehmen, wenn man weiß, dass sie überhaupt stattfindet."
se/wa (kna, SZ)