Angriffe auf Journalisten in Deutschland
26. März 2021Eskalation auf einer Demonstration in Deutschland. Kassel im März 2021. Rund 20.000 Menschen protestieren hier in Hessen gegen die Corona-Politik der Bundesregierung. Kaum ein Teilnehmer trägt eine Maske zum Schutz vor dem Virus. Auch der von der Politik angemahnte soziale Abstand wird nicht eingehalten. Die Menschen machen deutlich: sie pfeifen auf die Pandemie-Beschränkungen. Die Stimmung ist zeitweise aufgeheizt. Dokumentiert wird das Treiben durch zahlreiche Journalistinnen und Journalisten. Sie beobachten und protokollieren, filmen und fotografieren.
"Insgesamt waren die Teilnehmer sehr feindselig", berichtet der Fotograf Marco Kemp. Er ist mit seiner Kamera mitten im Geschehen. "Bedrohungen waren dabei, "Lügenpresse"-Rufe. Gleich zu Anfang wurde ein Kollege niedergeschlagen." Kemp erzählt, dass es den ganzen Tag lang so weiterging.
Täter sind oft männlich und rechts
Beschimpfungen und Angriffe gehören mittlerweile zum Arbeitsalltag von Journalisten in Deutschland - zumindest für jene, die über die Anti-Corona-Demonstrationen berichten. Das belegen auch die aktuellen Zahlen des European Centre for Press and Media Freedom, ECPMF. Das Leipziger Institut hat allein im Jahr 2020 fast 70 Angriffe auf Journalistinnen und Journalisten im Einsatz gezählt, der Höchststand seit Jahren. Die meisten Täter sind männlich. Und die meisten Angriffe (71 Prozent) erfolgten auf den Demonstrationen gegen die Corona-Politik. Fast die Hälfte der Täter kommt laut EECPMF aus dem rechten Spektrum: Neonazis, Hooligans oder sogenannte Reichsbürger. Aber die Angriffe kommen auch aus der Mitte der Gesellschaft.
"Der Otto-Normalbürger glaubt, dass er jetzt auch mal beleidigen kann", bestätigt der Fernsehjournalist Arndt Ginzel die Zahlen. Er berichtet für das Zweite Deutsche Fernsehen seit Jahren über die rechte Szene, Verschwörungstheoretiker und über Protestveranstaltungen gegen die Regierungspolitik. "Die Enthemmung hat zugenommen. Es gibt kaum noch Demonstrationen, wo man sagen kann, dass man sicher ist."
Für deutsche Journalisten gehört es mittlerweile zum Alltag, dass sie sich bei der Berichterstattung über Großereignisse von Sicherheitspersonal begleiten lassen. Vor allem Fernsehjournalisten leben gefährlich: durch Kamera und Mikrofon werden sie schnell erkannt. Auch die Deutsche Welle hat deswegen die Sicherheitsauflagen für Kolleginnen und Kollegen im Einsatz verschärft. Denn die Aggressivität der Demonstrierenden wird zu einer Gefahr für die Reporter.
Bespucken, Beschimpfen, Bedrängen
"Die Leute haben bewusst versucht zu zeigen, dass ich nicht erwünscht bin", erzählt DW-Reporterin Anne Höhn von einem Einsatz auf einer Anti-Corona-Demonstration in Berlin im August 2020. "Sie sind mir körperlich sehr nahe gekommen - obwohl wir vier Security-Männer dabei hatten."
Diese Aggressivität ist dabei mehr als nur persönlich unangenehm. Sie hat auch Auswirkungen auf die Arbeit. "Dadurch ist man nicht in der Lage, spontan auf Sachen zu reagieren", sagt DW-Reporterin Anne Höhn. "Du siehst zwar irgendetwas Interessantes, gehst aber nicht dahin, weil man seine Gruppe und die Security nicht verlassen soll."
Deswegen ist auch Reporter ohne Grenzen über die Entwicklung in Deutschland alarmiert. Denn die Angriffe und Beleidigungen gefährden eine umfangreiche Berichterstattung, warnt die Kommunikationsleiterin der Organisation, Sylvie Ahrens-Urbanek. "Natürlich ist es möglich, dass Medien auch Sicherheitspersonal einsetzen. Aber es kann da eben auch sein, dass Medien sagen: Das ist uns zu teuer: wir schicken keinen Reporter hin."
Polizei in der Kritik
In der Kritik steht dabei auch die deutsche Polizei. Sie würde zu wenig für den Schutz der Presse tun, beklagen viele Reporter und Verbände. Bei den Ausschreitungen in Kassel, berichtet der Fotograf Marco Kemp, sei die Polizei auffällig abwesend gewesen: "Ich habe den Eindruck, dass es der Polizei oft lästig ist, uns Journalisten zu unterstützen. Und, dass es ihr lieber wäre, wenn wir einfach gehen würden."
ZDF-Reporter Arndt Ginzel hat wie viele Kollegen massive Behinderungen seiner Arbeit durch die Polizei erlebt. Er fordert, dass es in Deutschland mehr medienpädagogische Angebote geben müsse. Denn viele Menschen wüssten zu wenig über den Beruf des Journalisten: "Schüler müssen lernen und verstehen, wie Journalisten arbeiten und wie sie zum Beispiel einen Fernsehbeitrag machen."
Bis auf Weiteres gehören Bodyguards wohl zum neuen Arbeitsalltag von zumindest einigen Journalisten in Deutschland. Für DW-Fernsehreporter Thomas Sparrow bleibt das außergewöhnlich. "Ich komme aus Kolumbien - ein Land, in dem es seit über fünfzig Jahren einen bewaffneten Konflikt gibt. Aber erst - und nur - in Deutschland musste ich als Journalist mit Bodyguards arbeiten."