Magersucht kann lebensbedrohliche Folgen haben
6. Juli 2021Seit mehr als 20 Jahren ist Julia magersüchtig. Sie ist 1,60 Meter groß und wiegt 40 Kilo. Für sie ist das schon viel. "In meiner schlimmsten Zeit habe ich 30 Kilo gewogen", erzählt sie. Eigentlich hatte sie nur ein bisschen abnehmen wollen. Sie habe sich mit ihrem Gewicht nicht so gut gefühlt, obwohl sie mit 56 Kilo im absoluten Normbereich lag. Ihren Entschluss fasste sie an einem Silvesterabend, sozusagen als guten Vorsatz für das neue Jahr. "Es hat direkt relativ gut geklappt. Von Januar bis Mai habe ich sechs Kilo verloren. Die meisten in meiner Umgebung fanden, ich sähe sehr gut aus, meinten aber, 50 Kilo würden nun auch reichen. Aber da konnte ich mit dem Abnehmen schon nicht mehr aufhören", sagt die heute 41-jährige.
Mit solchen Problemen hat Thomas Huber tagtäglich zu tun. Er leitet die Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, einer Einrichtung, die auf Essstörungen spezialisiert ist. "Die Betroffenen sind oft schon so tief in der Erkrankungsphase, dass sie gar keine Motivation mehr haben, etwas zu verändern. Genau das ist das Gefährliche. Diese jungen Menschen rutschen immer tiefer in die Magersucht, und wenn man unterhalb eines gewissen Gewichts kommt, kann die Erkrankung durchaus lebensbedrohlich werden", erklärt Huber. "Etwa zehn Prozent der Magersüchtigen sterben an ihrer Erkrankung."
Gut 1,1 Prozent der Mädchen und Frauen und 0,3 Prozent der Jungen und Männer haben Anorexie, also Magersucht. Die meisten sind zwischen 14 und 16 Jahren alt. Sah man die Ursache für diese Erkrankung früher eher darin, dass viele Mädchen so aussehen wollten wie Models oder einer Schauspielerin nacheiferten, weiß man heute, dass Magersucht auch viele andere Gründe haben kann. Vermindertes Selbstwertgefühl gehört dazu, Missbrauch oder auch Mobbing. Einmal in der Spirale gefangen, ist die Erkrankung meist kaum noch aufzuhalten und wird immer schlimmer.
Symptome: Hungern um jeden Preis
Nach den ersten Monaten ihrer Diät verlor Julia immer schneller ihre Pfunde. Bereits im Sommer wog sie nur noch 40 Kilo. Auf ihrem Speiseplan stand nur noch Rohkost, dann Obst und schließlich ein halbes Brötchen morgens und ein halbes Brötchen abends. Eine Ausnahme war ab und zu ein Glas Babybrei. 21 war sie damals. Bei ihr drehte sich alles nur noch darum abzunehmen. Über jedes Kilo weniger auf der Waage habe sie sich gefreut, sei jedes Mal regelrecht stolz darauf gewesen. Es habe ihr eine Art Wohlgefühl gegeben.
Irgendwann aber hat sich ihr Körper gemeldet und gegen die Radikalkur gewehrt. Bei einem Spaziergang hatte sie plötzlich Taubheitsgefühle in einem Bein. Ihre Mutter brachte sie zu einer Neurologin. Dort hörte sie zum ersten Mal von Anorexie, also Magersucht. "Ich bin dann zu einem Ernährungsberater für Essstörungen gegangen. Er hat genaue Essenspläne für mich erstellt. Ich habe gedacht, das würde mir helfen. Aber es hat gar nichts gebracht." Sie verlor immer mehr an Gewicht, konnte den Abwärtstrend nicht stoppen.
Ursachen: Fehlendes Selbstwertgefühl
Julia ist überzeugt, dass ihre Anorexie nicht auf einschneidende Erlebnisse in ihrer Kindheit zurückgeht. Sie sei sehr behütet aufgewachsen, habe aber schon in der Schule ein sehr geringes Selbstwertgefühl gehabt und sich immer viel kleiner gefühlt als alle anderen. Das konnte sie nicht kontrollieren, wohl aber, ob sie etwas essen wollte oder nicht. Darüber hatte sie Kontrolle. Sie alleine konnte bestimmen, ob sie etwas isst oder nicht. Darüber, was sie ihrem Körper damit antat, war sie sich in der ersten Phase nicht im Klaren.
"Unser Körper ist darauf programmiert zu überleben und spart Energie, wo immer er kann. Aber bei Magersucht verliere ich irgendwann nicht mehr nur Körperfett. Der Körper greift auf alles zurück, was irgendwie Energie liefert", sagt Huber. Es werde also auch wichtiges Organgewebe abgebaut. "Wenn zum Beispiel der Herzmuskel abgebaut wird, kann das bis zum Herzversagen führen. Oder beim Abbau der schützenden Fettkapsel um die Niere kann es zum Nierenversagen führen. Außerdem bilde ich nicht mehr so viel Blut und Abwehrzellen. Ich bin also viel anfälliger für Infekte."
Auch Julias Körper reagierte darauf, dass ihm keine Energie mehr zugeführt wurde. Das Taubheitsgefühl im Bein war nur ein erster Warnschuss. "Meine Periode ist ausgeblieben, und ich hatte eine sogenannte Lanugo-Behaarung. Das sieht ähnlich aus wie bei Babys, die ja auch noch so ein bisschen Flaum auf der Haut haben. Ich habe eine Osteoporose entwickelt, meine Haare sind ganz dünn geworden, und als ich im Urlaub mit meinen Eltern im Meer schwimmen war, ist mir auf einmal ganz schwarz vor Augen geworden. Da habe ich richtig Panik bekommen", beschreibt Julia die damalige Situation. Und die hat sie aufgerüttelt: Sie suchte sich Hilfe, ging zum ersten Mal in eine Klinik für Psychosomatik.
Folgen: Rückzug in die Isolation
Bei Julia folgte ein Klinikaufenthalt auf den nächsten. Der erste dauerte sieben Wochen, dann folgte eine ambulante Behandlung. Im Frühjahr 2004 ging es wieder drei Monate in die Klinik, im November nochmal sieben Wochen, 2006 drei Monate, 2008 zwei Monate, weitere Klinikaufenthalte 2008 und 2010.
Zur Behandlung in den Kliniken gehörte meist auch das tägliche Wiegen und das betreute Essen. Sie konnte nicht selber wählen, was sie essen wollte. Sie bekam einen fertigen Teller vorgesetzt, musste und konnte darüber nicht mehr selbst entscheiden. "Essgestörte haben verschiedene Tricks, um Kalorien zu sparen", erläutert Julia. "Sie lassen vielleicht die Butter weg oder kratzen die Körner auf dem Körnerbrötchen ab, denn die haben meist einiges an Fett. Vom Brötchen essen sie nur die äußere Hülle, nicht das Weiße innen drin."
Ihr Leben drehte sich nur noch um die Magersucht. Ihre ganze Person lief auf Sparprogramm, um so wenig Energie wie möglich zu verbrauchen. Sie zog sich von ihren Freunden zurück, hatte Panikattacken und Depressionen. Diese führten dazu, dass sie antriebslos war, keine Lust hatte irgendetwas zu unternehmen, sich etwa mit anderen zu treffen.
Zu Depressionen kämen oft soziale Phobien, erklärt Huber. "Bei der sozialen Phobie beispielsweise haben Menschen Angst vor sozialer Bewertung. Konkret bedeutet das: Ich traue mich nicht, fremde Menschen anzusprechen. Wenn ich etwa neu in eine Gruppe komme, traue ich mich nicht, Kontakt aufzunehmen. Da setze mich lieber still auf meinen Platz oder ich habe vielleicht Angst davor, beispielsweise ein Referat vor der ganzen Klasse zu halten."
Es sei eine extrem schwierige Zeit gewesen, sagt Julia. Nach ihren vielen Klinikaufenthalten wiegt sie heute immerhin 42 Kilo. Sie hat zwei kleine Kinder, beide haben ein normales Gewicht. Julia aber ist ihre Magersucht auch nach 20 Jahren nicht losgeworden. "Essstörungen bleiben wohl immer ein Teil von mir", sagt sie.
"Magerquark & Birne"
Einige Menschen mit Anorexie schaffen es, die Erkrankung hinter sich zu bringen, wieder normale Essgewohnheiten zu entwickeln. Der 31-jährige Manuel hat seine Essstörung überwunden.
Als Mann ist er einer der eher seltenen Fälle von Magersucht. Noch bis vor acht Jahren aber hatte die Erkrankung ihn fest im Griff. Heute versucht er, anderen zu helfen. Seit Oktober 2020 spricht er über seine Erkrankung und seine Erfahrungen regelmäßig in einem eigenen Podcast. Der Titel 'Magerquark & Birne'. Diese beiden Lebensmittel seien in seiner schlimmsten Phase so ziemlich das einzige gewesen, das er gegessen habe.
Dreieinhalb Jahre hat diese Phase gedauert, begonnen hatte sie als er 19 war. Auch Manuel hatte das Bedürfnis nach Kontrolle. Er glaubte, beim Essen hätte er sie, könne zumindest bestimmen, ob und was er essen wollte. "Ich hatte das Gefühl, dass ich gar nicht so richtig wusste, woran ich im Leben gerade bin. Ich hatte auch eine Art Sparzwang. Wenig Geld ausgeben, bedeutet auch, wenig einkaufen", sagt Manuel. Für ihn bedeutete das auch weniger und weniger zu essen. Das wurde zur Sucht.
Über die Jahre ist er immer tiefer hineingerutscht. Er begann Kalorien zu zählen. Die Anorexie habe sein ganzes Leben bestimmt. Schließlich wog er noch 57 Kilo. Manuel ist 1,80 groß. "Ich habe gewusst, dass das nicht normal ist, aber es war mir egal. Jetzt, viele Jahre später, ist es so als spräche ich über jemand anderen oder als sähe ich einen Film."
Ein guter Freund
Ein Schlüsselerlebnis brachte ihn dazu, sein Leben zu ändern. Manuel ist begeisterter Musiker, spielt Gitarre in einer Band, komponiert seine eigenen Songs. Sein Freund spielt ebenfalls in der Band. Er war letztendlich der Auslöser dafür, dass Manuel aus der Magersucht herausgekommen ist. "Da gab es einen richtigen Knall: 'So geht das nicht mehr weiter', hat mein Freund damals gesagt. Er könne das nicht mehr mittragen, nicht mehr mit ansehen. Da war für mich klar: Wenn ich jetzt nichts ändere und mir keine Hilfe suche, dann verliere ich alles, was mir etwas bedeutet: meinen besten Kumpel, die Band, die Musik", erzählt Manuel.
Manuel ging zu einer Beratungsstelle und machte eine ambulante Therapie mit dem Schwerpunkt Essstörungen und Essen im Allgemeinen. "Ich habe ziemlich schnell eine Therapeutin gefunden. Oft musste ich dann auch Hausaufgaben machen. Ich sollte lernen, wieder einen Bezug zum Essen zu bekommen: Wie schätzt man Essen richtig ein? Was ist eine normale Portion? Was ist zu wenig und was ist zu viel?"
Während der Therapie wurde sich Manuel darüber bewusst, dass die Erkrankung ihm ganz viel nimmt. Sie nehme Magersüchtigen die Lebensfreude und viel Energie, sagt Huber. "Der Leidensdruck steigt, und im besten Fall suchen Menschen mit Essstörungen dann Hilfe. Um die zu bekommen, gibt es viele Möglichkeiten. Auf unserer Homepage haben wir beispielsweise einen Fragebogen. Den können Betroffene ausfüllen und dann direkt an uns schicken. Danach gibt es dann meistens erste Vorgespräche", beschreibt Huber die eine Art, einen ersten Schritt zu machen.
Manuel ist überzeugt, dass er es alleine und ohne Therapie nicht geschafft hätte. Er habe immer wieder versucht, sich an die Zeit vor seiner Magersucht zu erinnern, wie das war. "Ich wollte wieder genießen können, ich wollte, dass diese ständigen Gedanken aufhören, und dass sich nicht alles nur um die Essstörung dreht. Ich bin einfach froh, dass ich das wiederhabe."
Podcast als Hilfestellung
Die Idee zu seinem Podcast kam Manuel bei einem Treffen von Magersüchtigen in einer Beratungsstelle. Er war als ehemalig Betroffener eingeladen, Fragen zu beantworten. "Eine der häufigsten war: Kann man es wirklich schaffen oder ist man sein Leben lang magersüchtig?"
Manuel erreichte sein Normalgewicht wieder ziemlich schnell. Etwa ein Jahr habe es gedauert. Heute wiegt er 84 Kilo, ist froh und dankbar, dass er von der Sucht losgekommen ist.
In seinem Podcast hat er zunächst über seine eigenen Erfahrungen als Magersüchtiger gesprochen, wollte positive und negative Erlebnisse so mit anderen teilen und ihnen Mut machen. Vor allem wollte er ihnen auch die Angst davor nehmen, Beratungsstellen aufzusuchen.
Mittlerweile aber sei seine eigene Geschichte fertig erzählt. Jetzt gebe es immer häufiger auch Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartner bei 'Magerquark & Birne'. "Es hat sich sogar eine kleine Gruppe gebildet, deren Mitglieder sich über Facebook untereinander austauschen. Das schwierigste ist, dass man sich seine Magersucht selbst eingestehen muss, dass man Hilfe sucht und auch bereit ist sie anzunehmen. Man kann es schaffen, aber ein Geheimrezept dafür habe ich nicht."