Ankara "offen“ für mögliche Auslieferung
2. November 2012Nach dem Mord an Jonny K. in Berlin Mitte Oktober ist in Deutschland eine Debatte über eine Auslieferung des Hauptverdächtigen Onur U. aus der Türkei entbrannt. Denn kurz nach der tödlichen Prügelattacke war Onur U. dorthin gereist. Obwohl die Türkei in der Vergangenheit in ähnlichen Fällen die Beschuldigten nicht an die Bundesrepublik überstellte, ist diesmal eine Auslieferung nicht ausgeschlossen.
"Offen“ sei ihr türkischer Amtskollege Sadullah Ergin in dieser Frage, berichtete Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) am Freitag (2.11.) zum Abschluss viertägiger Gespräche in der Türkei. Ergin habe sich jedenfalls nicht auf den Standpunkt zurückgezogen, dass es sich bei dem Verdächtigen um einen türkischen Staatesbürger handele, der die deutschen Behörden nichts angehe.
Genau diese Argumentation aber hat in den vergangenen Jahren mehrmals die Auslieferung mutmaßlicher türkischer Straftäter an die Bundesrepublik verhindert. Die Türkei folgt dem international geltenden Grundsatz, dass die Bürger des eigenen Landes nicht an eine andere Nation ausgeliefert werden.
Viele offene Fragen im Fall Jonny K.
Ob das im Fall Jonny K. ebenso gehandhabt wird, ist derzeit nicht abzusehen. Der Hauptverdächtige Onur U. hält sich offenbar derzeit immer noch in der Türkei auf. Über die "Bild“-Zeitung ließ er die deutschen Behörden wissen, dass er nicht geflohen, sondern in einer familiären Grundstücksangelegenheit mit seinem Vater ins westtürkische Izmir gereist sei. Er werde sich den deutschen Behörden stellen.
Falls er das trotz seiner Ankündigung doch nicht tut, kommt die Frage der Auslieferung auf die Tagesordnung. Da Onur U. angeblich neben der deutschen auch die türkische Staatsbürgerschaft besitzt, könnte der Fall kompliziert werden. Die türkische Regierung habe aber versprochen, einen etwaigen Auslieferungsantrag aus Deutschland "offen und konstruktiv“ zu prüfen, sagte Leutheusser-Schnarrenberger.
Erfahrungen aus der Vergangenheit
In den vergangenen Jahren sorgten mehrere deutsch-türkische Kriminalfälle für Debatten über eine Auslieferung – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Nach dem Mord an der damals 22-jährigen Hatun Sürücü im Jahr 2005 in Berlin wurde einer der Brüder des Opfers verurteilt, seine Schwester erschossen zu haben, weil sie mit ihrem Lebenswandel die "Ehre“ der Familie beschmutzt habe. Zwei weitere Brüder wurden zunächst aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Als der Bundesgerichtshof später die Freisprüche für sie aufhob, hatten sich diese schon in die Türkei abgesetzt. Eine Auslieferung lehnte Ankara ab, weil es sich um türkische Staatsbürger handelte. Auch eine Strafverfolgung durch die türkische Justiz gab es nicht.
Anders verhielten sich die türkischen Behörden im Fall der kleinen Kardelen aus Paderborn, die im Januar 2009 in Deutschland ermordet wurde. Auch in diesem Fall setzte sich der Hauptverdächtige in die Türkei ab, wo er festgenommen wurde. Auch diesmal lehnte die Türkei eine Auslieferung des Türken an die Bundesrepublik ab. Aber anders als im Fall Sürücü strengte die türkische Staatsanwaltschaft auf der Grundlage der deutschen Ermittlungen einen Prozess gegen den Mann an. Er wurde knapp ein Jahr nach dem Mord zu lebenslanger Haft verurteilt.
Langes Verfahren mit offenem Ende
Selbst wenn Onur U. am Ende an die Bundesrepublik ausgeliefert wird, müssen sich die deutschen Behörden auf ein langes Verfahren einstellen, das sich über Monate hinziehen könnte. Die deutschen Gesuche und die Beweismittel zur Absicherung der Vorwürfe gegen Onur U. müssten den türkischen Behörden in notariell beglaubigten Übersetzungen vorgelegt werden. Onur U. würde die Möglichkeit erhalten, sich zu den Vorwürfen zu äußern.
Auch eine - ebenfalls mögliche - Strafverfolgung durch die türkischen Behörden selbst, wie im Fall Kardelen, wäre keine einfache oder rasche Angelegenheit. Auch dabei müssten viele Unterlagen übersetzt und in die Türkei geschickt werden. Nach bisherigem Stand ist es aber selbst für diese Vorbereitungen noch zu früh. Erst einmal muss abgewartet werden, ob Onur U. sein Wort hält und freiwillig nach Deutschland zurückkehrt. Die türkischen Behörden sehen derzeit jedenfalls keinen Anlass zum Handeln – Onur U. wurde bisher weder festgenommen, noch von der türkischen Polizei zu den Anschuldigungen aus Deutschland verhört.