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Ankara nimmt Socialmedia an die Kandare

Daniel Heinrich
2. Oktober 2020

In der Türkei gelten seit 1. Oktober neue Regeln zur Kontrolle sozialer Medien. Kritiker sprechen von verstärkter Zensur. Die Regierung fühlt sich im Recht und führt als Vorbild die deutsche Gesetzgebung an.

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Symbolbild Türkei Internet Zensur
Bild: picture-alliance/chromorange/R. Peters

Die türkische Regierungspartei AKP greift durch: Vom 1. Oktober an gilt in der Türkei die Regelung, dass Anbieter Sozialer Medien mit täglich mehr als einer Million türkischer Nutzer Niederlassungen im Land mit einem türkischen Staatsbürger als Vertreter eröffnen müssen.

Möglich ist auch die Vertretung durch eine juristische Person. Wird kein Vertreter angemeldet, drohen Strafen. Die Regelungen beziehen sich unter anderem auf die Plattformen Facebook und Twitter. Was sich zunächst bürokratisch anhört, bedeutet in der Realität einen starken Eingriff in die Rechte der Unternehmen und der Meinungsfreiheit. 

"Mit Hilfe eines Gerichtsurteils können die Plattformen dadurch im schlimmsten Fall sogar gelöscht werden", erklärt der Cyberexperte Yaman Akdeniz gegenüber der Deutschen Welle (DW). Akdeniz lehrt an der Bilgi Universität in Istanbul, einer der führenden Privatuniversitäten des Landes.

Der Rechtsprofessor skizziert, welche Druckmittel die Behörden in Zukunft in der Hand hätten. Falls sich die Unternehmen nicht an die neuen Regelungen hielten und in die Türkei kämen, "müssen sie bis Dezember 2021 mit Strafzahlungen von über vier Millionen Euro rechnen".

Um zusätzlichen Druck auszuüben, würden die Behörden zudem ein "Werbeverbot erlassen. Das bedeutet, dass wirklich niemand mehr auf diesen Plattformen Anzeigen schalten darf". Hinzu käme das Drosseln der Frequenzbandbreiten der Server, "mit der Absicht, den Zugang zu den Plattformen fast unmöglich zu machen." 

Türkei Yaman Akdeniz, Anwalt
Cyberexperte Yaman AkdenizBild: DW/B. Karakas

Schutz oder Zensur?

Schon im Juli hatte das türkische Parlament in Ankara ein Gesetz verabschiedet, das digitale Plattformen wie Facebook, Twitter oder Instagram einer schärferen Kontrolle unterzieht. Seitdem sind diese unter anderem dazu verpflichtet, innerhalb von 48 Stunden auf Anfragen zur Löschung oder Sperrung bestimmter Inhalte zu reagieren.

Bei der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP heißt es, mit dem Gesetz wolle man gegen Beleidigungen und Belästigungen im Netz vorgehen. Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch (HRW) steht dieser Argumentation sehr kritisch gegenüber.

Das Gesetz sei der Versuch, eine deutlich stärkere Zensur durchzusetzen, als man sie bisher gesehen habe, so die Türkei-Direktorin der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation, die für die Wahrung der Menschenrechte eintritt. Viele Menschen in der Türkei würden über die Sozialen Medien an wichtige Informationen kommen, gerade kritische Berichterstattung im Netz sei sehr lebendig in der Türkei: "Alle machen alles auf Social Media".

Finanziell aushungern

Die digitalen Plattformen nehmen in der Türkei auch deswegen eine so große Bedeutung ein, da in den traditionellen Medien kaum mehr kritische Debatten geführt werden. Das Auswärtige Amt (AA) in Berlin geht davon aus, dass inzwischen etwa 90 Prozent der türkischen Medien personell oder finanziell mit der Regierungspartei AKP verbunden sind.

Die restlichen Zeitungen und Sender würden finanziell ausgehungert, indem zum Beispiel Anzeigenkunden bedroht würden. Medien, die bislang eher regierungskritisch berichteten, zensierten sich deshalb immer häufiger selbst.

Diese Bewertung schlägt sich auch in internationalen Statistiken nieder. Auf der weltweiten Rangliste für Pressefreiheit der Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) steht die Türkei inzwischen auf Platz 154 von 180 Staaten

Türkei Istanbul Pressefreiheitsaktivisten lesen Oppositionszeitung Cumhuriyet
Aktivisten lesen die Oppositionszeitung Cumhuriyet. Der Großteil der Presselandschaft ist regierungstreuBild: Reuters/M. Sezer

Deutschland als Vorbild

Ankara verweist indessen auf Deutschland als Vorbild. So lehne sich das neue Gesetz an das Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) der Bundesrepublik an. Das NetzDG verpflichtet Internet-Plattformen zu einem härteren Vorgehen gegen Hass, Hetze und Terror-Propaganda.

Klar strafbare Inhalte müssen binnen 24 Stunden gelöscht werden, auf Beschwerden von Nutzern soll nach spätestens 48 Stunden reagiert werden. Zudem müssen die Unternehmen alle sechs Monate einen Bericht über ihren Umgang mit Beschwerden veröffentlichen.

Emma Sinclair-Webb von Human Rights Watch weist solche Vergleiche zurück. Die Situation in Deutschland sei eine völlig andere. Im Gegensatz zur Türkei gebe es eine unabhängige Justiz und Gewaltenteilung.

"Dysfunktionale Justiz"

Das Auswärtige Amt schließt sich dieser Analyse an und stellt der Türkei bei der Wahrung demokratischer Grundrechte ein vernichtendes Zeugnis aus. Die Justiz sei "in weiten Teilen dysfunktional" und teils politisch beeinflusst, heißt es im aktuellen Bericht über die "asyl- und abschiebungsrelevante Lage".

Cyberexperte Yaman Akdeniz prognostiziert eine Reihe von Komplikationen, falls Facebook und Co. sich dazu entschließen sollten, in die Türkei zu kommen. Zum einen würden sie "riskieren, zum langen Arm der türkischen Justiz zu werden", da sie jeder behördlich angeordneten Einschränkung oder Blockade ihrer Inhalte Folge zu leisten hätten.

In der Folge drohte den Plattformen dann "eine ganze Flut von Hunderten von Verleumdungsklagen vor Zivilgerichten" von betroffenen Nutzern. Außerdem "würden sie sich dem Vorwurf privater Zensur aussetzen, da sie sich dazu verpflichten müssten, auf jede einzelne Beschwerde sofort einzugehen."