Zulauf für die Islamisten
9. August 2011Auf der Avenue Habib Bourguiba in Tunis diskutieren ein paar Männer mit langen Bärten und weiten Gewändern über Politik. Einer verurteilt die Trennung von Staat und Religion lautstark als "Gotteslästerung", ein anderer schimpft über die "verdorbene Gesellschaft". Eine Szene, die im laizistischen Tunesien vor einigen Monaten noch undenkbar gewesen wäre. Der Geheimdienst hätte die Männer sofort festgenommen.
Die Flaniermeile im Herzen der Hauptstadt trägt den Namen des ersten Präsidenten, der das Land von 1957 bis 1987 regierte: Bourguiba, der "Vater der Nation". Er setzte auf Säkularismus und Gleichberechtigung der Geschlechter und wollte ein modernes Tunesien aufbauen. Dieses Ziel sah er vor allem durch islamistische Kräfte bedroht, die er konsequent unterdrückte. Seit der demokratischen Jasmin-Revolution und dem Sturz von Bourguibas Nachfolger Zine al Abidine Ben Ali am 14. Januar 2011 sind sie wieder präsent - in den Straßen ebenso wie in der Politik.
"Diese Leute machen mir Angst"
Nicht allen behagt das. Unweit der Promenade sitzt Cyreen Belhedi mit ihren Freunden in einem der zahlreichen Cafés auf der belebten Avenue. Stolz präsentiert sie ihre neue rosarote Handtasche mit Schlangenmuster: "Gerade erst gekauft!" Die jungen Frauen und Männer rauchen Zigaretten, trinken ausgelassen Kaffee, Tee, Fruchtsäfte, teilweise auch Bier. Zu den bärtigen Männern blicken sie äußerst misstrauisch hinüber. "Diese Leute machen mir Angst", sagt die 27-jährige Cyreen, die während der Jasminrevolution täglich zum Demonstrieren auf die Straßen gezogen war und dafür sogar ihren Job als Ingenieurin opferte. "Wenn diese Islamisten hier jemals an die Macht kommen sollten, dann wirft uns das sehr weit zurück", sagt sie, "sogar noch weit hinter die Ära von Bourguiba".
Die Befürchtungen der jungen Leute richten sich nicht allein auf die bärtigen Männer von der anderen Straßenseite. Sie richten sich vor allem auf die Ennahda-Partei, die wohl populärste islamistische Gruppierung im Lande. Jahrzehnte lang verboten, mischt die Partei nun wieder an vorderster Front im politischen Betrieb des Landes mit.
Besuch beim Islamisten-Chef
Führer und geistiger Vater der Ennahda ist Rachid al Ghannouchi. Der 70-Jährige ist in konservativ-muslimischen Kreisen hoch angesehen. Er ist Mitglied des internationalen Rates der Muslimbrüder, seine Schriften gelten weltweit als Referenz des politischen Islams. Rachid al Ghannouchi war schon zu Zeiten von Präsident Bourguiba politisch aktiv und wurde mehrfach inhaftiert. Kurz nach der Jasminrevolution kehrte er nach über 20 Jahren aus dem Londoner Exil in seine Heimat zurück.
Das Haus, in dem Al Ghannouchi seine Gäste empfängt, liegt in einem gepflegten Viertel am Stadtrand von Tunis. An der Tür wartet ein kräftig gebauter Bodyguard mit Schnauzbart und Sonnenbrille, im Garten hängen Kinder- und Frauenkleider an einer Wäscheleine zwischen Obstbäumen. Viele sichtlich gut gelaunte Männer bewegen sich im Haus und telefonieren mit ihren Handys. Journalisten, aber auch politische Anhänger warten auf ein persönliches Gespräch mit "Scheich Rachid". Ein älterer Mann mit weißem Bart und Palästinensertuch berichtet, dass er als Anhänger Al Ghannouchis 16 Jahre im Gefängnis und viele weitere Jahre im Exil verbracht habe, "unter anderem in Freiburg". "Sprechen Sie Deutsch?", fragt er und lacht, ohne die Antwort abzuwarten. Stattdessen erklärt er seine persönliche Theorie, dass alle Menschen auf der Welt "im Grunde Araber“ seien. "Schon Adam war ein Araber. Deshalb sollten auch alle Menschen den Islam annehmen."
Rachid al Ghannouchi empfängt seine Besucher entspannt in einem grauen Anzug mit weißem Hemd und schwarzen Lederschuhen auf einem roten Berberteppich in der Mitte eines großen Wohnraums. Auf einem Bildschirm in der Zimmerecke läuft "Al Jazeera". Die Ängste gegenüber seiner Partei seien völlig unberechtigt, versichert Al Ghannouchi. Sie beruhten immer noch auf dem "Geschäft mit der Angst", das Ex-Präsident Ben Ali betrieben habe, um politische Gegner auszuschalten. Ziel seiner Partei sei "die Säuberung der Gesellschaft von Überresten der Herrschaft Ben Alis und der Aufbau eines freien demokratischen Staates, der alle Bürger gleich behandelt". Davor müssten weder tunesische Bürger noch der Westen Angst haben, beschwichtigt er.
Islamisierung als heimliches Ziel?
Entschlossen grenzt sich der alte Mann von der Gewaltideologie der Al Kaida ab: "Wir haben es immer gesagt und wir sagen es auch heute noch: Die Aktivitäten von Al Kaida sind nicht legitim - sie sind Terror." Anders als die friedlichen Revolutionen in Tunesien und Ägypten habe Al Kaida bisher keines der korrupten Regimes in der Region stürzen können. "Außerdem", ergänzt Al Ghannouchi, "leiden der Islam und die islamischen Bewegungen in Wahrheit doch am meisten unter den Folgen der Anschläge vom 11. September". Muslimische Minderheiten im Westen würden seitdem "pauschal des Terrors verdächtigt“ und stünden "unter ständiger polizeilicher Überwachung“, moniert er.
"Gewaltakte bringen mehr Schaden als Nutzen", beteuert auch Rida Belhaj. Er ist Sprecher der ebenfalls islamistischen, aber radikaler auftretenden Tahrir-Partei. Der auffallend kleine Mann mit Dreitagebart und leiser Stimme hat sich für das Interview ebenfalls in einem Café auf der Avenue Bourguiba verabredet. Über die politische Verfolgung durch das alte Regime möchte er nicht reden. Aus Bescheidenheit, sagt er.
Belhaj spricht lieber von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten, die er noch für unvollendet hält. Sie seien "wichtige Schritte" auf dem Weg zu einer "Befreiung aller Muslime weltweit" gewesen, schwärmt er. "Denn natürlich sind diese Revolutionen islamisch. Die Menschen, die sie gemacht haben, sind ja Muslime", erklärt der Islamisten-Sprecher. Sein Blick schweift nach draußen. "Die Korruption herrscht immer noch im ganzen Land!", skandiert dort eine kleine Menschenmenge vor dem städtischen Theater, einem Gebäude aus der Kolonialzeit. Zwei Engels-Statuen mit nackten Brüsten zieren die altertümliche Fassade.
"Die Absichten hinter 9/11 waren gut"
Eine eindeutige Abgrenzung von radikalen Islamisten wie Al Kaida ist dem Parteisprecher nicht zu entlocken. Gewalt sei zwar falsch, aber die Absichten hinter den Anschlägen vom 11. September seien "gut“ gewesen, meint er: "Sie hatten allerdings eine negative Wirkung, weil Muslime leider, anders als der Westen, nicht über die medialen Mittel verfügen, um die Öffentlichkeit von der Richtigkeit ihrer Absichten zu überzeugen." Seine eigene Absichten verbirgt Belhaj keineswegs: Oberstes Ziel seiner Partei sei ein tunesischer Staat mit dem Islam als Quelle aller Gesetze, erklärt er. Die Begeisterung für diese Vision ist ihm deutlich anzumerken.
Cyreen und ihre Freunde sitzen derweil in einem anderen Café ganz in der Nähe und zählen lachend auf, wer alles niemals in einem solchen islamischen Staat leben könnte. "Alle Tunesier, die gerne abends in Bars ein Bier trinken", ruft einer. Und ein anderer: "Alle Frauen, die gerne in Bikinis schwimmen, und alle Männer, die Frauen in Bikinis gerne beim Baden zuschauen." "Also eine solide Mehrheit", resümiert ein dritter und die ganze Runde kichert. Dann aber wird Cyreen auf einmal sehr ernst: "Wenn die Islamisten hier trotzdem an die Macht kämen, müssten wir alle auswandern und hätten unsere Revolution ganz umsonst gemacht."
Autor: Khalid El Kaoutit
Redaktion: Rainer Sollich / Daniel Scheschkewitz