Syrien: Idlib, der Krieg und das Coronavirus
27. März 2020Am 23. März bestätigte der syrische Gesundheitsminister in den staatlichen Medien den ersten Corona-Fall im Land. Regelmäßige Updates gab es seitdem nicht. Die Johns Hopkins Universität im amerikanischen Baltimore meldet für Syrien derzeit fünf Fälle.
Die Deutsche Welle steht seit Tagen, teilweise Wochen in Kontakt mit drei Menschen in der Provinz Idlib im Nordwesten Syriens. Alle drei berichten von ihrer Angst, dass die syrische Rebellenhochburg zu einem Epizentrum der Corona-Pandemie werden könnte – unbeachtet von der Weltgemeinschaft.
Mona
"Die Plage der Menschen in Idlib ist der Krieg, nicht das Virus", sagt Mona. Den Krieg könne man seit neun Jahren sehen und spüren. Corona nicht. Noch nicht. Es ist der 16. März.
Mona ist 24 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann in Idlib City, der letzten von islamistischen Kämpfern kontrollierten Stadt des Landes. Seit Anfang Februar begleiten wir sie. Mona schildert der DW jeden Tag per Whatsapp-Nachrichten, Audios und Videos ihren Alltag im Krieg.
Jetzt ist das Thema Corona dazugekommen. Doch die Menschen in ihrem Umfeld "denken, das Virus kann nicht schlimmer sein als das, was wir schon durchgemacht haben".
Mona selbst verfolgt die internationalen Nachrichten. Die weltweit steigenden Infektionszahlen machen ihr Angst. "Wenn Corona sich in Idlib verbreitet, dann ist das das Ende. Wir haben doch kaum noch Krankenhäuser. Alles wurde bombardiert."
Die Hilfsorganisation International Rescue Committee (IRC) wird genau eine Woche später, am 23. März, neue Daten veröffentlichen. Danach sind allein im vergangenen Jahr "85 Angriffe auf medizinische Einrichtungen" in Idlib verübt worden.
Die meisten der noch geöffneten Krankenhäuser seien nicht in der Lage, den ohnehin bestehenden Bedarf zu decken. Das IRC warnt für die Region vor einem der gravierendsten Corona-Ausbrüche weltweit.
Auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) erfasst Angriffe auf medizinische Einrichtungen. Danach hat es zwischen 2016 und 2019 in Syrien insgesamt 494 Attacken gegen Gesundheitseinrichtungen gegeben. Fast 70 Prozent, insgesamt 337 Angriffe, ereigneten sich im Nordwesten des Landes, zu dem auch Idlib gehört.
Sameeh Qaddour
Dr. Sameeh Qaddour und seine Kollegen am Krankenhaus von Aqrabat versuchen das Unmögliche möglich zu machen: Leben zu retten im Krieg. Ohne High-Tech-Medizin. Mit viel zu wenig Personal. "Wir hatten schon vorher Engpässe bei der medizinischen Versorgung. Da kann man sich vorstellen, was passieren würde, wenn Corona hier ankommt", schreibt Qaddour am Freitag, den 20. März.
Masken seien noch vorrätig, Handschuhe nicht. Und Test-Kits gebe es in der Klinik, die etwa 40 Kilometer nördlich von Idlib in unmittelbarer Nähe zur türkischen Grenze liegt, ebenfalls nicht. Über rund 80 Betten verfügt das Krankenhaus. Es gibt zwei Intensivbetten und ein Beatmungsgerät.
"Wir müssten uns im Zweifel für den Patienten mit den besseren Überlebenschancen entscheiden. Das mag unethisch klingen, aber…" An dieser Stelle schreibt Dr. Qaddour nicht weiter.
Am 22. März postet der Gesundheitsdirektor der Provinz Idlib (Idlib Health Directorate, IDH) eine Videobotschaft auf Facebook, um auf die Notlage hinzuweisen. Nach Angaben von Dr. Munzer al-Khalil kommen auf ein Krankenhausbett knapp 1600 Patienten. "Es gibt 201 Intensivbetten, aber nur 95 Beatmungsgeräte für Erwachsene." Allerdings seien diese auch ohne Corona-Patienten fast durchgängig belegt. Vor dem Krieg hatte die Provinz rund 1,5 Millionen Einwohner. Derzeit sollen es nach UN-Angaben mehr als drei Millionen sein.
Mohamed
"Wir atmen zwar, aber eigentlich sind wir wie tot." Das schreibt Mohamed der DW am 6. März. "Das Camp tötet alle Träume."
Er ist 25 Jahre alt und stammt aus einer Kleinstadt im Nordwesten Syriens. Zusammen mit seinen Eltern und vier Brüdern lebt er seit Ende April 2019 in einem Flüchtlingslager nahe der Grenze zur Türkei. Das Haus der Familie wurde durch einen Luftangriff zerstört. Insgesamt 2000 Personen seien im Lager, schätzt er.
Anders als die meisten anderen Flüchtlinge leben Mohamed und seine Angehörigen nicht in einem Zelt. Sie haben sich selbst ein kleines, provisorisches Haus gebaut. Nur zehn solcher Häuser aus hellgrauen Ziegeln gebe es im Camp, bestätigt die syrische Kinderhilfsorganisation Hurras.
Mohamed berichtet, er sei einer von sechs freiwilligen Helfern im Camp. Seine Gruppe hat unter anderem eine Schule gebaut, für über 80 Kinder. Er schickt Video-Clips, man sieht ein Klassenzimmer voller Jungen und Mädchen. Er ist stolz darauf, etwas Sinnvolles zu tun.
Auch Mohamed hat davon gehört, dass es in vielen Ländern ein gefährliches Virus namens Corona gibt. Aber noch beeinflusst die Nachricht seinen Alltag nicht.
Mona
Mona arbeitet etwa eine Autostunde von Idlib City entfernt. Ihr Arbeitgeber ist die schwedische Hilfsorganisation Start Point. Die NGO setzt sich vor allem für die Rechte von Frauen in Syrien ein.
Am 17. März berichtet Mona, dass sie ihr Büro desinfiziert habe. "Und ich habe mit meinen Kolleginnen über Corona gesprochen. Ich habe ihnen gesagt, dass sie Körperkontakt und Küsse vermeiden sollen. Dass sie in ein Taschentuch schnäuzen und versuchen sollen, Handschuhe zu tragen. Und dass sie bei sich selbst auf mögliche Krankheitssymptome achten müssen."
Mona hat sich eine Atemschutzmaske gekauft, sie schickt ein Foto davon. "Es ist keine besonders gute, sie ist nicht sehr effektiv", fügt sie fast entschuldigend hinzu.
Sameeh Qaddour
Eigentlich ist Dr. Qaddour Anästhesist. Gleichzeitig arbeitet er als Geschäftsführer des Krankenhauses von Aqrabat. Der Schwerpunkt der Klinik liegt auf den Fachbereichen Orthopädie und plastische Wiederherstellungschirurgie.
Neben Qaddour gibt es dort derzeit ein gutes Dutzend weiterer Ärzte. Viele - und nicht nur aus diesem Krankenhaus - pendeln zwischen der Türkei und Syrien: "Sie sind jede Woche für drei oder vier Tage in Syrien und ansonsten bei ihren Angehörigen in der Türkei. Wenn die Grenze geschlossen ist, bekommen wir einen Ärztemangel." Dann ist sie nur noch in Richtung Syrien geöffnet, zurück in die Türkei kann dann niemand. Seit dem 5. März herrscht in Idlib ein fragiler Waffenstillstand.
Mohamed
Mohamed klingt deprimiert, jeden Tag mehr. "Ich habe Angst vor allem, vor dem Leben im Camp, vor der Zukunft", schreibt er am 10. März. Sechs Tage später berichtet er, dass die Schule im Camp geschlossen wurde. "Wir haben den Kindern gesagt, wie gefährlich das Corona-Virus ist: was es für Schutzmaßnahmen gibt, wie wichtig Sauberkeit gerade jetzt ist, das regelmäßige Händewaschen. Besonders, weil wir in einem Lager leben."
Wasser gebe es in seinem Camp immer noch ausreichend, schreibt Mohamed zwei Wochen später. Jeden Tag würde eine Hilfsorganisation die Bewohner mit einem Truck beliefern. Doch in den meisten anderen Flüchtlingslagern in der Region ist Wasser absolute Mangelware.
Am 22. März meldet sich Mohamed mit der Nachricht, dass er und seine Familie drinnen bleiben. Zu siebt harren sie in ihrem provisorischen, selbstgebauten Haus im Camp aus. "Wir gehen nirgendwo mehr hin."
Er ist kurz angebunden, antwortet meist nur noch einsilbig auf Fragen. Sie alle hätten Angst. Zwei Tage später schickt er ein Foto von sich. Zum ersten Mal trägt er darauf einen Mundschutz.
Mona
Am 18. März schickt Mona Fotos und Videos von riesigen Menschenmengen: In der Provinzhauptstadt Idlib City haben sich an diesem Tag zigtausende versammelt, um an den Jahrestag der syrischen Revolution vor neun Jahren zu erinnern.
Mona selbst blieb zu Hause. "Ich freue mich über die Feier an sich. Aber ich habe Angst vor dem Virus. Idlib würde in dieser Verfassung niemals damit fertig werden."
Der 21. März ist ein sonniger Samstag in Idlib. "Ich habe die Stadt seit langem nicht mehr so voll erlebt", schreibt Mona. Das Gedränge sei katastrophal gewesen. Vermutlich wegen des guten Wetters und des seit Anfang März anhaltenden Waffenstillstands.
"Meine Freundin und ich haben Lebensmitteleinkäufe erledigt. Uns war mulmig zumute, weil wir daran denken mussten, dass sich das Virus einfach ausbreiten kann."
Am 23. März fährt Mona zum ersten Mal nicht mehr ins Büro. Sie und ihre drei Kolleginnen arbeiten ab sofort von zu Hause. "Es ist besser so", sagt Mona. Wohl wissend, dass sie im Vergleich zu anderen Flüchtlingen privilegiert lebt.
Sameeh Qaddour
"Das Krankenhaus von Aqrabat und andere Kliniken in der Region haben beschlossen, nur noch Notfälle zu behandeln, die nicht aufgeschoben werden können", schreibt Dr. Qaddour am 21. März.
Damit soll erreicht werden, dass weniger Menschen ins Krankenhaus kommen und die Wartebereiche leerer werden. Genau wie Mona denkt Qaddour, dass die Corona-Krise bei vielen noch immer nicht angekommen ist. "Die Menschen sehen nicht, vor was für einem riesigen Problem wir stehen."
Am 24. März schickt Dr. Qaddour einen Link. Er hat ein Facebook-Video aufgenommen. Darauf ist er mit mintgrüner OP-Haube an seinem Schreibtisch in der Klinik zu sehen, um den Hals hängt ein Mundschutz. Der Anästhesist hat diesen Weg gewählt, um seine Landsleute wachzurütteln: "Ich habe das gemacht, damit die Gesellschaft begreift, dass unsere medizinischen Möglichkeiten gegen null tendieren, sollte es eine Corona-Epidemie in unserer Region geben."
Er schreibt der DW, dass die Weltgesundheitsorganisation versprochen habe, Schutzhandschuhe, Gesichtsmasken und Test-Kits nach Idlib zu schicken.
Nur wo getestet wird, kann das Virus auch nachgewiesen werden. Am Morgen des 25. März meldet sich Dr. Qaddour mit guten Neuigkeiten. Aus der Türkei seien tatsächlich die ersten Test-Kits eingetroffen. So rasant wie sich das Virus derzeit im Nahen Osten ausbreitet, scheint es nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch Idlib steigende Fallzahlen meldet.
Mitarbeit: Abbas Al-Kashali, DW Arabisch